Wir machen uns auf zum Cumbria Way und treffen vier Herren, die uns wertvolle Tipps geben.
Vor dem Abschied aus dem Puppenhaus hat unser freundlicher Wirt in den Manchesterhosen ein feines Frühstück aufgetischt. Alles ist mit kleinen, gehäkelten Tüchern abgedeckt, Meeresmüschelchen ziehen auf allen Seiten straff. Seine Frau haben wir nie gesehen, obwohl sie «im Zimmer oben» sein soll. Er erklärt den Weg nach Caldbeck: Alles dem Fluss entlang. Erst der zweite Tag werde schwieriger, Steigungen auf die höchsten englischen Pässe würden uns erwarten und der Unterschied zu dem Schweizer Bergen sei der, dass die Baumgrenze hier bereits auf fünfhundert Metern beginne – wegen des Windes vom Meer und den Schafen, die alles abfressen. Wobei er sehr kompliziert tut mit diesen fünfhundert Metern, er stellte sich die Welt in Fuss und Yards vor, rechnet um – «ihr Schweizer habt eben andere Einheiten». Wir bleiben, sagt er, den unseren treu, auch dem Pfund.
Der Euro zum Beispiel – der habe mit Europa gar nichts zu tun. Das hätten allein die Franzosen durchgesetzt, und den Briten bekomme das nicht. Wenn sie, die Briten, ins Ausland gingen, müssten sie ohnehin Geld wechseln – in Amerika habe man nach wie vor den Dollar und in Südafrika den Rand. Er erklärt nochmals den Weg nach Dalston, dann nach Caldbeck.
Draussen zeigt sich ein anderes Carlisle als am Sonntag. Die Schlenderer, Promenierer und Geniesser vom gestrigen Frühlingstag sind nicht mehr da, sitzen in Büros, an Sitzungen oder sind sonstwo unterwegs. In den Strassen stehen die Untätigen, viele, die vielleicht gern etwas arbeiten würden, auch andere, die sich im Videoladen eine Kassette ausleihen, eine, zwei Büchsen Bier holen und den grauen Tag duldsam vorbeigehen lassen werden. Das Hallenbad auf dem Weg aus der Stadt hinaus wirkt schmuddlig, das Wrestler, ein Pub, ist geschlossen, das Gaswerk scheint ausser Gebrauch, und die leeren Fabriken ausserhalb der Stadt würden in London begehrte Lofts hergeben. Hier zerfallen sie hohläugig vor sich hin.
Weiden ohne Tiere
Kilometerlang wandern wir Weiden entlang, durch knöchelhohes, nasses Gras, keine Tiere, weder Schafe noch Kühe – vier Millionen verbrannten auf Scheiterhaufen im vergangenen Jahr, und nun soll die Maul- und Klauenseuche ausgerottet sein. Die Tiere aber offenbar auch. Aus Dalston grüsst ein kalter Kamin, und ein paar Meilen weiter, in Bridge End bei Buckabank, winkt freundlich ein Wirtshausschild.
Gelbe Tapeten, grüne, tiefe und samtbezogene Wandbänke und Hocker, schwere Holzbalken an der Decke, der Billardtisch steht verwaist da. An der Wand wächst – feine, graue Sporen – ein wunderhübsches Pilzgeflecht, aber der Cidre schmeckt fein.
Dann treten ein: Brian, Paul, Steve und Carl. Vier Mitvierziger in kurzen Hosen, dichtbehaarte Beine, Rucksäcke, Wanderstöcke – und sie haben Durst. Das etzte Etäppchen des Cumbria Way steht ihnen bevor, noch zwei Stunden bis Carlisle, doch nun erst ein Pint. Dazu Frites und Ketch-up. Dazu dann noch ein Pint. Von Ulverstone kommen sie her, fünf Tage unterwegs – und nun fast am Ziel. Und sehr erschöpft. Sehr, sehr hart sei der Weg, sagen sie und Moni macht grosse Augen. Wir haben ihn vor uns.
Ein Plan und seine Umsetzung
Ein einziges Leiden, sagen die vier. An einer Grillparty im vergangenen Sommer hatten sie die Idee: Cumbria Way. Das heisst: Es hatte einer die Idee, der jetzt feigerweise gar nicht mal dabei ist. Er hatte die Reise im letzten Moment absagen müssen, aus fadenscheinigen Gründen. Aber er hatte als erster vom Cumbria Way gesprochen. Im fernen London reifte der Plan und je später der Abend geworden sei, damals, je leerer die Bierdosen, desto klarer der Plan: Cumbria Way. Sechs Männer und der Cumbria Way. Nun sind zwar nur vier hier, aber sie waren auf dem Cumbria Way – die ganzen fünf Tage lang. Und heute auf der letzten Etappe, schon vier Stunden hinter sich, erst durch nasse Wälder, an einem kaum passierbaren Bergsturz vorbei, über feuchte Wiesen und nun hier.
Monika und ich erzählen, dass wir erst seit drei Stunden unterwegs seien. Blicke des Bedauerns – und wertvolle Gesten der Unterstützung. Dann geben sie uns eine Adresse für ein ganz hervorragendes B&B in Whelpo bei Caldbeck und vor allem den Tipp für den Sherpa Service. Den gebe es auf dem Cumbria Way, er nehme das Gepäck auf Bestellung mit und deponiere es am Zielort.
Wir verabschieden uns – wunderbare Wanderung an Internatsschulen, steinalten Eichen vorbei, sehr krank sehen sie zum Teil aus: Es folgen verträumte, heruntergekommene, früher wohl herrschaftliche Bauernhäuser und allmählich tauchen auch Herden auf, Schafe und Kühe, auch Pferde.
Die letzte Stunde dann eine Qual, morastiger Waldweg, ein Bergsturz tatsächlich und dann aber doch wieder malerisch: Caldbeck. Putzige Häuser, zusehends in regennasses Grau verfallend, ein wahrhaft englischer Anblick, was sich durchs Wirtshausfenster anbietet. Nach dem Essen holt uns ein Farmer aus Whelpo ab, führt uns auf den Hof – vor dem Fenster führt eine Steinbrücke über den Bach und über allem Wolken, die sich jagen, die sich die ganze Nacht jagen werden. Und eine Ruhe!
Als ich mich vom Fenster abwende und zu Monika sagen will: «Diese Ruhe!» – da schläft sie. Tief.
{Whelpo, Caldbeck, 13. Mai 2002)
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