Vom Eigenleben der Dinge und ihrer Erkennbarkeit

Interview mit Ridvan Askin zu „Aesthetics in the 21st Century“ (2012) Diesen Sommer gab es zum Thema Aesthetics in the 21st Century eine weitere Konferenz. Bevor wir nächste Woche wieder über Bücher reden, wollen wir von der spannenden Begegnung zwischen Ästhetik, Kunst und spekulativem Realismus berichten. Noch besser kann das allerdings Ridvan Askin, einer der Koorganisatoren der […]

Democracy of Objects (Drawing by Tammy Lu)

Interview mit Ridvan Askin zu „Aesthetics in the 21st Century“ (2012)

Diesen Sommer gab es zum Thema Aesthetics in the 21st Century eine weitere Konferenz. Bevor wir nächste Woche wieder über Bücher reden, wollen wir von der spannenden Begegnung zwischen Ästhetik, Kunst und spekulativem Realismus berichten. Noch besser kann das allerdings Ridvan Askin, einer der Koorganisatoren der Tagung (zusammen mit Paul Ennis, Andreas Hägler und Philipp Schweighauser), der für Fragen zur Verfügung stand.

Herr Askin, was bedeutet Ästhetik im 21. Jahrhundert?
Zunächst einmal bedeutet Ästhetik im 21. Jahrhundert ein generelles wiedererwachtes Interesse an ästhetischen Fragen überhaupt. Im Zuge der zunehmenden Politisierung der Literatur- und Kulturwissenschaft seit den 70er und 80er Jahren stand die Beschäftigung mit Fragen der Ästhetik lange Jahre unter dem Generalverdacht des Apolitischen, gar Reaktionären. Die Losung hiess Politik oder Ästhetik. In den letzten 10-15 Jahren ist dieses starre Gefüge aufgelöst worden und die Ästhetik wieder verstärkt in den Fokus gerückt, gerade auch im Zusammenspiel mit dem Politischen, wie etwa im Werk von Jacques Rancière.

Die Ästhetik ist also wieder gleichauf mit Ontologie, Erkenntnistheorie und Ethik?
Zumindest macht sie sich wieder stärker bemerkbar. Man muss hier allerdings unterscheiden zwischen Ästhetik als Philosophie der Kunst und der philosophischen Ästhetik, der Beschäftigung mit Sinneswahrnehmungen in ihrer erkenntnistheoretischen Bedeutung. Sinneswahrnehmungen können täuschen und sind prinzipiell zweifelhaft. Sie kommen somit der begrifflichen Vernunft ganz und gar ungelegen. Nichtsdestotrotz kommt man nicht umhin den Sinnen eine gebührende Rolle im Erkenntnisprozess einzuräumen. Fragen der Kunst wiederum sind natürlich eng mit Fragen der Wahrnehmung verbunden. In diesem Spannungsfeld zwischen Kunsttheorie und philosophischer Ästhetik waren denn auch die Beiträge der Konferenz angesiedelt.

Welche Rolle spielte also die philosophische Ästhetik auf der Konferenz?
Die Konferenz griff hier den neuen spekulativen Turn in der Philosophie auf. Hauptvertreter und „Gründungsmitglieder“ sind Ray Brassier, Iain Hamilton Grant, Graham Harman und Quentin Meillassoux. Zentral ist allen der von Meillassoux geprägte Begriff des Korrelationismus. Er bezeichnet ein grundlegendes Problem in der Philosophie seit Kant, an dem sich alle spekulativen Realisten auf je eigene Weise abarbeiten. Dieses Problem betrifft die Möglichkeit, Denken und Sein unabhängig voneinenader, also ausserhalb ihrer Korrelation, zu denken. Laut Korrelationismus ist dies nicht möglich, da Denken immer auf die Welt bezogen ist und die Welt immer einem denkenden Subjekt erscheint. Der Spekulative Realismus ist also ein Versuch auf ein Jenseits dieses Bezuges zu spekulieren.

Und die Ästhetik?
Ästhetik ist in diesem Spannungsfeld direkt mit Ontologie gekoppelt. Traditionell beschäftigt sich die Ästhetik mit der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen. Mit dem spekulativen Realismus wird es möglich, über sinnliche Begegnungen zwischen jeglichen Entitäten und Instanzen zu sprechen. Der Fokus auf den Menschen fällt weg und es eröffnet sich ein viel weiteres Feld.

Also Aktivität von und Interaktion zwischen nichtmenschlichen Instanzen?
Erste Versuche in diese Richtung werden etwa in Jane Bennets Vibrant Matter und Levi Bryants The Democracy of Objects unternommen. Ein konkretes Beispiel: Was passiert eigentlich wenn eine Maschine einen von einer anderen Maschine produzierten („literarischen“) Text liest, wie es Roberto Simanowski und Katherine Hayles während der Tagung diskutierten.

Demokratie der Objekte? Im Sinne ihrer Gleichberechtigung gegenüber und Unabhängigkeit vom Menschen?
Ja, aber nur im ontologischen Sinne. Das bedeutet erst einmal nicht mehr als, dass der Mensch kein ontologisches Privileg geniesst. Er ist ein Ding, ein Objekt unter vielen. Der Mensch ist kein Übersein. Es gibt hier überhaupt keine Hierarchie im Sein. So gesehen müsste man eigentlich von der Anarchie der Objekte sprechen.

(Bild: v)

Die Gretchenfrage Herr Askin: Kann man Kants Korrelationismus und die Aussagen der postmodernen Philosophie zur Relativität aller Erkenntnis und Aussagen einfach zur Seite legen?
Nein. Man kann aber auch nicht behaupten, dass irgendjemand dies behaupten würde. Im Gegenteil, Korrelationismus (und die postmoderne Philosophie ist eine Spielart davon) bezeichnet ein genuines, philosophisches Problem dem mit entsprechender Sorgfalt begegnet werden muss und auch wird. So hält Meillassoux das korrelationistische Argument für nicht hintergehbar und versucht den Korrelationismus von innen heraus an und über seine Grenzen zu bringen. Brassier setzt auf die Wissenschaft als Zugang zur Realität jenseits des Korrelationismus und Grant auf eine Schellingsche Naturphilosophie. Harmans Position wiederum entspricht geradezu einem verallgemeinerten Kantianismus: die Kluft zwischen den Erscheinungsweisen der Dinge und den Dingen an sich betrifft keineswegs bloss die Relation von Mensch zu Welt, sondern die Relation zwischen jeglichen Entitäten, etwa, um eines von Harmans Beispielen zu nennen, die Interaktion von Feuer und Baumwolle. Wenn Feuer mit Baumwolle in Kontakt kommt, so geschieht dies immer auf einer sinnlichen, ästhetischen Ebene und niemals auf der Ebene des Dings an sich. Das Ding an sich, also der reale Kern, entzieht sich in diesen Begegnungen. Für Harman ist es also so, dass nicht nur Menschen in ihrem Erkenntnisvermögen radikal eingeschränkt sind. Vielmehr betrifft diese Einschränkung die Verhältnisse zwischen allen Dingen überhaupt. Kein Ding erschliesst je ein anderes noch sich selbst absolut.

Vielen Dank, Ridvan Askin.

Ein nicht ganz einfaches Thema. Was denken Sie dazu?
Zum Weiterlesen: Diese neuen spekulativen Ansätze animieren zur Zeit vor allem im englischsprachigen Raum zu Diskussionen, die zu einem guten Teil in Blogs stattfinden. Der Game-Theoretiker Ian Bogost hat einige der wichtigsten Blogs zusammengestellt. Von den vier “Gründungsautoren” bloggt nur Graham Harman, der übrigens mit seinem Vortrag die Tagung eröffnet hat. Als Einstieg ins Thema empfehlen sich ausserdem der frei erhältliche Sammelband The Speculative Turn, sowie die Beiträge zu den open access journals Speculations und continent.

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