1917 wurde das Russische Reich durch zwei Umstürze erschüttert – der mächtige Zar fiel ihnen zum Opfer. Das moderne Russland hat sich gegen soziale Unruhe gewappnet, doch viele Fragen sind seit 100 Jahren ungelöst.
«Nieder mit dem Zaren!» – Solche Schmähungen standen im Februar 1917 selbst am Generalstabsgebäude wenige Schritte vom Winterpalast des russischen Herrschers entfernt. Vor 100 Jahren brodelte es in der Hauptstadt, die damals Petrograd hiess. Es fehlte an Brot, weil die riesige Armee im Ersten Weltkrieg versorgt werden musste. Im dritten Kriegsjahr waren die Menschen müde.
Am 23. Februar nach altem russischem – dem julianischen – Kalender zogen streikende Arbeiter ins Zentrum der Stadt, nach heutiger Zeitrechnung war es der 8. März. Zar Nikolaus II. schickte Polizei und Armee gegen die Protestierenden, es kam zu Blutvergiessen. Doch nach wenigen Tagen wendete sich das Blatt, die Soldaten verbrüderten sich mit den Streikenden, und der Druck auf den Zaren wuchs.
Am 2. März (am 15. nach heutigem gregorianischem Kalender) 1917 dankte Nikolaus ab, auch sein Bruder Michail entsagte dem Thron – mehr als 1000 Jahre Monarchie in Russland und 304 Jahre Herrschaft der Romanow-Dynastie waren zu Ende.
Staatsstreich durch linke Minderheit
Doch für das grosse Land war die Februarrevolution nur Auftakt zu einem Jahr voller Erschütterungen, die schliesslich zum Staatsstreich und zur Machtübernahme durch die Minderheitskommunisten der Bolschewiki in der Oktoberrevolution führten – nachdem die moderatere linke Mehrheit der Menschewiki machtpolitisch kaltgestellt worden war.
Für das heutige Russland ist das Epochenjahr Teil einer Vergangenheit, die nicht vergeht. «Das Jahr 1917 will einfach nicht Geschichte werden, es wirkt auf die heutige Politik», schrieb der Historiker Konstantin Salesski in der Zeitung «Iswestija».
Die Lehren, die aus dem Geschehen vor 100 Jahren gezogen werden, sind aber sehr unterschiedlich. Präsident Wladimir Putin regiert sein Land autoritär, um jede Art von Erschütterung im Keim zu ersticken. Salesski teilt diese Sicht.
Er fragt, was denn den Menschen damals versprochen worden sei: «Frieden, den Arbeitern die Fabriken, den Bauern Land, den Räten die Macht, den Hungrigen Brot.» Nichts davon sei erfüllt worden. «Jede Revolution ist ein grosses Verbrechen, eine grosse Lüge, eine grosse Katastrophe», folgert er.
Putin gedenkt im Zeichen der Versöhnung
Die russische Führung hat das Revolutionsgedenken in diesem Jahr unter das Leitmotiv der nationalen Versöhnung gestellt: Es sollen sich die Weissen mit den Roten versöhnen, die Monarchisten und Liberalen mit den Kommunisten. Das Volk müsse einig sein «unabhängig davon, auf welcher Seite der Barrikade unsere Vorväter gestanden haben», sagte Putin bei seiner Jahresrede im vergangenen Dezember.
Die russisch-orthodoxe Kirche, die als einzige Institution alle Traditionsbrüche überdauert hat, legte zum Gedenkjahr sogar eine Art Sündenbekenntnis ab. Die damaligen Priester hätten es zugelassen, dass Soldaten und Matrosen – treibende Kräfte der Revolutionen – sich «von der Kirche entfernt» hätten, sagte Sprecher Wladimir Legojda.
Parallelen zwischen 1917 und heute
Kritische russische Stimmen sehen beunruhigende Parallelen zwischen dem späten Zarenreich und Putins System. Das seien «die Privilegien der einen und die Rechtlosigkeit der anderen, die Taubheit und Korruptheit der Beamten, das Unvermögen der Staatsmacht, mit dem Volk zu kommunizieren», schreibt der Politologe Nikolai Mironow in der Zeitung «Moskowski Komsomolez».
Eine revolutionäre Stimmung ist in Russland trotz Wirtschaftskrise aber nicht auszumachen. Doch wie vor 100 Jahren hängt das ganze Land von einem einzigen Mann ab.
Zar Nikolaus II. war damals nicht der Mann, der sein Imperium hätte retten können. Dabei hatte das rückständige Zarenreich um die Wende zum 20. Jahrhundert wirtschaftlich sogar aufgeholt, die Industrie blühte auf. Landlose Bauern strömten in die Städte und wurden Arbeiter. Es verschärften sich – in marxistischer Diktion – die Gegensätze. Doch das Zarentum hielt mit dem raschen Wandel nicht Schritt.
Realitätsferner Zar Nikolaus
Der weiche, nachgiebige Nikolaus konnte nicht mehr so autoritär herrschen wie sein Vater Alexander III. Er war aber auch nicht entschieden genug, sein Reich zu reformieren. Er und seine deutsche Frau Alexandra hingen dem Gefühl einer mythischen Einheit von Zar und russischem Volk an. In Wirklichkeit lebten sie weit von ihm entfernt.
Auf den Sturz des Zaren folgten neue Freiheiten und grosses Chaos. Eine provisorische Regierung unter wechselnden Ministerpräsidenten konkurrierte mit dem Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat um die Macht. Russland führte weiter Krieg, doch an der Front desertierten die Soldaten. Finnland, Polen und das Baltikum spalteten sich ab.
Die Bolschewiki, die radikalste linke Partei in Russland, spielten in der Februarrevolution kaum eine Rolle. Doch danach drang ihr Anführer Lenin auf eine Machtübernahme. Ein erster Aufstand der Aussenseiter im Juli scheiterte, der zweite im Oktober war erfolgreich.
Imperialismus auch unter der Sowjetunion
1918 ermordeten die Kommunisten den gefangenen Zaren und seine Familie. Im Bürgerkrieg bis 1922 festigten sie ihre Macht. Die Sowjetunion entstand, die in vielem den Imperialismus des Zarenreichs fortsetzte.
Auch das moderne Russland habe mit dem Erbe des letzten Zaren zu kämpfen, sagt der deutsche Historiker Jan Claas Behrends. «Autokratie, Despotismus, soziale Ungerechtigkeit und imperiale Überdehnung waren die Probleme, die zur russischen Revolution vor 100 Jahren führten», schreibt der in Potsdam und Berlin Lehrende. Ein Jahrhundert später sei keines dieser Probleme gelöst.