Vor Gericht mit Milo Rau

  Die Filmemacher führen den Diskurs schon seit Jahrzehnten: Ist Dokumentarismus Kino? Die Dokumentaristen feiern ungebrochen ihre Erfolge. Am Theater hingegen herrscht deshalb Unruhe: Die Wirklichkeit befindet sich auf der Flucht vor den Theatern! Oder sehen die Theater die Wirklichkeit nicht mehr? Warten wir darauf, bis einer eine wirkliche Überwachungskamera andockt, und uns das Resultat […]

 

Die Filmemacher führen den Diskurs schon seit Jahrzehnten: Ist Dokumentarismus Kino? Die Dokumentaristen feiern ungebrochen ihre Erfolge. Am Theater hingegen herrscht deshalb Unruhe: Die Wirklichkeit befindet sich auf der Flucht vor den Theatern! Oder sehen die Theater die Wirklichkeit nicht mehr? Warten wir darauf, bis einer eine wirkliche Überwachungskamera andockt, und uns das Resultat als seinen Film verkauft?

Milo Rau geht fast so weit: Er lädt uns dazu ein, unsere Wirklichkeit als Theateraufführung zu betrachten. Es ist denn auch eine willkommene Unverfrorenheit, wenn ein Produzent einen Theaterregisseur engagiert, damit er eine Gerichtsverhandlung zu seiner Inszenierung erkärt, die ohne ihn (und uns als Zuschauerinnen) ohnehin stattgefunden hätte. Aber es ist noch bei weitem zu wenig unverfroren, was Milo Rau da tut: Konrad Bayer hat wenigstens die Welt zu seiner Erfindung ausgerufen. «Die Welt bin ich!».

Die junge Frau hingegen, die an diesem Mittwoch wirklich wirklich unter der Anklage der Körperverletzung vor Gericht stand, hatte mit dem Regisseur, der ja eigentlich ihr Erfinder sein sollte, nicht eine einzige Konzeptionsprobe. Selbst der beschimpfte Beamte konnte bei der Schilderung des Tatherganges nicht mit der literarischen Unterstützung eines Dramaturgen rechnen. Die Urteilsfindung fand ebenfall ohne den Regisseur statt. Es war eben doch weniger als Wirklichkeit durch die Brille des Theaterzuschauers. Es war die normale Theatralität der Wirklichkeit, der wir da auch hätten beiwohnen dürfen, ohne als Theaterzuschauer organisiert worden zu sein.

Die Richterin handelte in Eigenregie. Gerichtsverhandlungen sind im Kanton Basel-Stadt deshalb öffentlich. Der Regisseur hingegen war höchstens sein eigener Regisseur. Ja, er war ja eigentlich auch nicht ein Regisseur, sondern ein Exkursionsleiter. Was wir sahen, war auch nicht wirklich – nicht wirklich? – eine Inszenierung sondern eine «Exkursion in die Wirklichkeit». So weit sind wir also: Dass wir an einem freien Tag auch mal zu Besuch in unserer Wirklichkeit gehen könnten!

Dabei ist das Gericht ein von Milo Rau denkbar klug gewählter, weil dramatischer Ort. Die Wahrheit etwa, wie sie die alten Griechen schon im Drama suchten, will auch hier erst einmal gefunden werden. Dazu prallen Aussagen aufeinander, sitzt die Täterin dem Opfer gegenüber, oder besser gesagt, muss hinter ihm zuhören, wie er den Tathergang schildert. Es werden Thesen entwickelt und Antithese widerlegt. Die Befragung der Zeugen wird laut und deutlich vorgenommen. Das Plädoyer des Verteidigers setzt rhethorisch gelassen, mit einigen überflüssigen Ääähs und sehr wirksam und einsichtig einen Schlussakkord. Bis die Richterin, wie im Drama der Chor, dann im Namen des Volkes, die Synthese bekannt gibt, die Täterin auch ein wenig zum Opfer macht, aber nicht zu fest, ohne jegliche Kunst der Verstellung in der Stimme. Wenn auch bei der Bekanntgabe des Strafmasses eine mütterliche Wärme mitschwingt, die keine RTL-Richterinnenspielerin feinsinniger hingekriegt hätte – sie bleibt  hart.

Die Zuschauerinnen, die im Gericht auf den dafür vorgesehenen Stühlen hatten Platz nehmen dürfen, waren fasziniert. Gerne hätten sie noch eine weitere Exkursion in die Unwirtlichkeit über sich ergehen lassen: Vielleicht ein im Schadensbüro einer Versicherung, oder in einem Börsenhandelsplatz, auch ein Stunde in einem Fundbüro wäre mal nett, oder in der Drogenabgabestelle oder einfach mal eine Stunde lang in einem Sexshop hinter der Kasse sitzen. Sind wir schon so weit von all den Wirklichkeiten weg? Ist das also alles irgenwie beliebig?

Wer vor diesem Gericht verurteilt wird, geht danach nicht in die Garderobe zum Abschminken. Die junge Frau wurde in der Tat für die Tat verurteilt. Zumindest für die Beteiligten des Wirklichkeits-Dramas war daran nichts Beliebiges. Das wirklich eigentliche  Drama fand ohnhin vor eineinhalb Jahren statt. Wir haben nur dessen Aufarbeitung beigewohnt. Die ist dann auch ganz im Sinne der Repräsentanz allen gelungen. Wir waren die braven Bürger, die mitspielten und mitnickten. Nur etwas hat gefehlt, und dies entscheidend: Diese Exkursion hatte keinen Experten, der dieser Wirklichkeit etwas gedanklich entgegensetzen wollte. Weder Milo Rau noch Boris Nikitin haben das mit den Anmerkungen geschafft. Es war auch nicht intendiert. Schade eigentlich, denn gerade an den sanften Grenzen dieses Rollenspiels Gerichtsverhandlung hätten wir so viel mehr aus der Wirklichkeit in den performativen Diskurs holen können, als bloss Zeugen einer Art Pressekonferenz zu sein, bei der das wichtigste fast die anwesenden Kameras waren.

Wer proklamiert, die Wirklichkeit könne auch mal mit der Regelgebung einer Theateraufführung betrachtet werden, als lüfte er damit ein vielschichtiges Geheimnis, mag auch gerne etwas von der List der Tradition zu Gemüte führen: Unter Cinéasten ist das «Direct Cinema» längst als Antihaltung bekannt. Das «CinémaVerité» hat die Fiktion längst ausser Kraft gesetzt.

Schon vor dem ersten Weltkrieg verkündete Fernand Léger den Tod des Fiktiven: «Der Irrtum des Films ist das Drehbuch!» Das Dokumentarische hielt auch im Theater Einzug. Piscator setzte Wirklichkeit gegen die Illusion von Wirklichkeit ein. Auch nach dem zweiten Weltkrieg war die Wirklichkeit kaum mehr erfindbar: Wie können 12 Mio getötete Menschen dargestellt werden? Während das Theater begann Gerichtsfälle nachzuzeichnen (Peter Weiss), zwangen die Amerikaner die Nazis sich die Dokumentarfilme der Befreiung der Konzentrationslager anzuschauen. Seht her. Das ist Wirklichkeit. Wieder war es der Film, der die Fäden aufnahm: Der Neorealismo suchte seine Drehorte weitab vom Glamour der Illusionsmaschine für einen Neubeginn. Die Nouvelle Vague entwickelte ein Eigenleben ausserhalb der grossen Illusionsfabriken. Der Dokumentarfilm begann sein Eigenleben zu entwickeln: Die Wirklichkeit war längst zu komplex, um in einfachen Narrationen erfasst zu werden.

1973 hat Chris Marker in seinem Film «L’ambassade» diese Forderung erfüllt, indem er, wenige Wochen nach dem Putsch von General Pinochet, die Tage danach in einer (französischen?) Botschaft schildert, wohin die Menschen vor der Repression fliehen und sich streiten und zermürben, nur um zu überleben, bis im Schlussschwenk deutlich gemacht wird, dass sich das ganze – in Wirklichkeit unwirkliche Spiel – in Paris abgespielt hat.

Die nächste Illusionswelle schwappte mit den Siegern über die Lichtsääle und endlich über die Fernsehschirme. Das amerikanische Leben wurde zur Wirklichkeit, auch in anderen Ländern. Der amerikanische Film begann sich an der Narration der Künstlichkeit zu entzücken. Die Dokumentaristen hielten, wie Chris Marker, hilflos dagegen und kämpften für die Wiedereinführung des Non-Fiktionalen. Im April 1999 wurde ein deutscher Produzent verhaftet, der jahrelang deutsche, französische und britische Fernsehsender mit Dokumentarfilmen über Neonazis versorgt hatte, die er mit Statisten in einem Schuppen in der Umgebung von München gedreht hatte. Dieser Fälscher hatte verstanden was Méliès Forderung an die Filmkunst galt: «Wahrer als echt zu sein!»

Die wahren und echten Beobachtungen, die uns bleiben, lassen sich mit jenen vergleichen, die wir an jedem beliebigen Ort auch machen könnten: Warum schauen die Zeugen der Angeklagten beim Hereinkommen und Hinausgehen nicht in die Augen? Wieso liess die Richterin ihren Blick oft nur mit einem Auge über die Angeklagte streifen? Wann suchte ihr Blick nur den Anwalt? Warum hat die Mutter, die auch unter den Zuschauern sass, nicht ausgesagt? Welche Rollendefinitionen steckten hinter dem zerknitterten Sakko des Verteidigers? Die Exkursion war mehr eine Einladung dazu, dass wir uns wieder auf mehr aufmerksam machen könnten.

Hat nicht der Zeuge mit fast den gleichen Worten wie die Angeklagte den Tathergang geschildert? Hat er nicht sogar mit der gleichen, linken Hand angedeutet, wo der Geldbeutel zur Zeit der Tat sich befand? Zum Abschluss ist das Urteil gefällt. Man geht wieder auseinander. Ob es nun hierfür einer performativen Theorie bedarf?

Es lässt sich noch manch einer Situation des Alltags mit einer komplexen performativen Konstruktion beikommen. Boris Nikitin hat sich als Exkursions-Initiator wacker in die Rolle des Sinnstifters geworfen. Doch, was blieb als Eindruck? Es muss nicht immer um einen zerbrochenen Krug gehen, um spannend zu sein. Aber ob es dazu einer performativen Theoriebildung bedarf? Wir hätten aber auch mal selber auf die Idee kommen können, in so ein Gericht reinzuschauen! Oder in eine Suppenküche? Um mal auszuhalten, wie performativ dass dann ist, wenn da Menschen von Almosen leben. Eine ganze Reihe von neuen bürgerlichen Geschäftsideen öffnen sich. Ja, das ist es dann wohl auch: eine Geschäftsidee. Milo Rau immerhin schien mehr an den anwesenden Kameras interessiert, als an den Anwesenden. 

Während die dramatische Literatur den Abschied von der Repräsentanz feiert, sucht das Theater rege nach nichtfiktionaler Wirklichkeit. Aber ausgerechnet mit einem fiktiven Hörspiel ziegte Orson Wells, wie man die Wirklichkeit noch wirklicher werden lässt, als durch perfekter imitierte Nachahmung. Er liess Amerika, wenn auch nicht intendiert, durch sein «Mockumentary» der gelandeten Marsmenschen aus den Fugen geraten: Die Behörden höchstselbst mussten verbreiten lassen, die im Hörspiel berichtete Invasion habe nicht stattgefunden. Es bestehe kein Grund zur Panik. Da hatte die Massenflucht schon eingesetzt.

Rau ist wohl ein grandioser Vernküpfer. Er nimmt die Fäden, die scheinbar zusammenhanglos in der Wirklichkeit herumliegen und verknüpft sie neu, und verkauft die Knoten als neu: Da scheint der Diskurs um die Narration auf dem Theater gerade mal beendet: Da ruft er in einer Stadt, die demokratisch regiert wird, die Demokratie aus und fängt an, mit einem Parallel-Parlament Parallelbeschlüsse zu fassen (so angeregt in St.Gallen vor Jahren). Es braucht nicht viel Schlitzohrigkeit, einen Brejvik-Prozess zu verhökern. Eher schon bräuchte es Chuzbe sich der Dokumentation des Nicole-Prozeßes zu stellen, der gegen den Genfer Arbeiterführer geführt wurde, und der samt der Dokumentation der Schießerei von Genf vom 9. Nov. 1932, durchaus etwas über die schweizerische rechte Mythenbildung sagen könnte. (wurde Ende der Siebziger in Basel bereits einmal als Lesung rekonstruiert.) Die Frage bleibt, wieviel Wirklichkeit braucht die Wirklichkeit, damit wir ihr beikommen können? Und die Wirklichkeit gibt auch gerne Antwort: Sie ist unendlich interessanter als jede ihrer Theoriebildungen!

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