Frankreich wählt ein neues Parlament, aber die meisten foutieren sich drum. Im Loire-Tal scheint es ohnehin wenig Platz für Politik zu geben.
Der Präsident des Landes hier, Jacques Chirac, hat so einiges an Dreck am Stecken, aber die Leute haben ihn vor wenigen Wochen mit zweiundachtzig Prozent der Stimmen gewählt, um das Übel des Xenophoben Le Pen abzuwenden. So sind wir denn doch nicht, haben sich die vereinigten Franzosen von links bis weit rechts gedacht. Beim ersten Wahlgang sind sie grösstenteils zu Hause geblieben und haben es so verpasst, in der Stichwahl zwischen einem Frankreich zu wählen, das in gutem Trott so weiterfährt wie bis jetzt und einem Frankreich, das etwas naiv an einer gerechteren, sozialeren und vielleicht auch ökologischeren Zukunft basteln will. Jetzt konnten sie halt nur noch zwischen Chirac und Le Pen wählen.
Warum auch soll man etwas ändern? So ein grauer Sonntagmorgen – im Bus an die Stadtgrenze von Angers. Falle etwas auf mit meinem schweren Rucksack. Die Leute gehen irgendwelchen Verpflichtungen nach. Einem Dejeuner im Garten oder einem Braten bei Verwandten. Zwei ältere Damen vis-a-vis sind zum Frauenkränzchen eingeladen, kommentieren die schönen Einfamilienhäuser, tratschen. Sie sprechen nicht über Wahlen, über Politik, gehen ans Kränzchen, was sollen sie auch wählen gehen heute! Politik ist schmutzig. Ist sie auch, vielleicht.
Alles schmuck hergerichtet
Die Dörfchen hier an der Loire sind es nicht, sie sind ausserordentlich reinlich und sauber. Die reine Stattlichkeit an diesem Weg der Loire entlang! Die Häuser sind zweistöckig geworden. Wohl damit sie nicht so kärglich aussehen neben den immer zahlreicheren herrschaftlichen Bauten, Palästchen und manchmal schon fast Schlösschen. Sie stehen nah an den schmalen Strassen, einige sind zurückgesetzt, Gärten davor, manchmal hinter Mauern, kleine Pärke hin und wieder. Eine grosse Stille – nicht einmal Hundegebell – begleitet mich durch die Strassen von St-Jean-des-Mauvrets, von St-Saturnin-sur-Loire. Zweimal sehe ich in Einfamilienhäusern neueren Datums in offenen Garagen lange, weissgedeckte Tischen stehen. Fröhliche Gesellschaften haben sich zum Sonntagsmahl eingefunden, schauen mir verwundert nach, einige blicken kurz enttäuscht in den grauen Himmel. Eigentlich war wohl ein Essen im Garten und nicht in der Garage geplant.
Manchmal erschreckt die Ruhe, in St-Sulpice etwa – einem Dörfchen, das zum ausschliesslichen Wochenend-Paradies geworden ist. Die Leute haben den Zerfall der Häuser aufgehalten und hübsch, mit gutem Geld stilvoll Gemäuer renoviert und alles schön eingerichtet. Feine Gerüche aus den Küchen, hin und wieder tönt etwas überlaute Musik aus Gärten, in denen sich Leute entspannen. Was sollen die über eine Zukunft von Frankreich nachdenken, wenn hier ihr Paradies steht.
Die ersten Wähler und Wählerinnen
In Blaison-Gohier seh ich erstmals Wählerinnen und Wähler vor einem Gemeindehaus warten, ein- und ausgehen. Sie sind sehr still, ihr Tun wirkt sehr würdevoll. Der Himmel wird dunkler, es nieselt, und der Wind bläst spürbar. Eine gute Temperatur, um einen schweren Rucksack der Loire entlang zu tragen; aber die Landschaft mit der üppigen Vegetation wäre um einiges freundlicher bei sonnigem Wetter. Langsam ändert sich die Vegetation. Plötzlich hohe Malven und vor allem: Reben. «Sie betreten eine Region mit Herkunftsbezeichnung», ermahnt mich ein Plakat. Region Anjou. Weine, die weit herum bekannt sind.
Trotz Grau des Sonntags: Die Dörfer werden Loire-aufwärts immer malerischer. Immer weniger zerfallende Gemäuer, hier packen die Städter an. In St-Remy-la-Varenne scheint die Gemütlichkeit das Dorf zu ersticken. In der Dorfbar lungern ein paar Halbwüchsige herum, ein kleiner Bub langweilt sich an Flipper- und Töggelikasten, sie trinken und rauchen, steigen zwischendurch aufs Mofa und machen Lärm in die Stille. Das Grau des Tages wirkt deplatziert. Der Spaziergang dem Ufer entlang, dem Ufer der breiten, berauschend trägen Loire entlang, ist schön, einfach schön. Er gipfelt im Anblick des herausgeputzten le Thoureil: ein Häuschen gekonnter renoviert als das nachbarliche, die Auberge lädt zum Halt und wenn mir die Wirtin nicht versichert hätte, es gäbe in diesem Fleck überhaupt kein Plätzchen zum Übernachten – ich wäre geblieben.
Die Schlappe der Linken
Und so zog ich weiter nach Gennes, wie vorgesehen, ein ausgestorbenes Nest an einer Loire-Brücke. Alle Bars geschlossen, ein Restaurant auch – nur oben, im Hotel Restaurant les Naulets d´Anjou scheint sich etwas zu bewegen. Ein Zimmer mit Fernsehen hat es noch – und da seh ich dann auch, was heute geschehen ist: Noch nie sind so viele in Frankreich der Urne fern geblieben. Hätt´s mir denken können. Was soll man denn wählen – oder wie es eine Gewählte aus Chiracs Anhängerschaft vor der Kamera sagte: Was soll denn ändern? Wir haben ja alles. Resigniert, weil offenbar die Mehrheit so denkt, halten ihr die Linken entgegen, was Frankreich fehlt: eine funktionierende Justiz, eine Integrationspolitik, ein gerechtes Steuer- und vor allem ein faires Schulsystem… Sie haben nicht überzeugen können, an diesem grauen Sonntag, die Linken, sie sind schrecklich untergegangen. Und der Wirt findet das auch in Ordnung. Es sei nun Zeit, dass endlich etwas ändere. «Frankreich ist zu sozialistisch.» Es lohne sich nicht mehr zu arbeiten. Am besten hänge man fünfunddreissig Stunden lang in einer Fabrik herum, kassiere den Lohn und warte auf die Pension. Aber wirklich arbeiten, in kleinen Unternehmen wie dem seinen, das sei Selbstmord. Zu hohe Steuern und Sozialabgaben. Man könne sich die Löhne von Angestellten nicht mehr leisten. In seinem Betrieb arbeiten seine Frau, er und die Schwiegermutter. Dann beschäftigen sie noch einen Sechzehnjährigen, der in schwarzer Bügelfaltenhose und weissem Jacket im Restaurant bedient. Und zwei Zimmerfrauen.
Oh, wie sich die Argumente doch überall gleichen!
(Gennes, 9. Juni 2002)