Wales schreibt neben Island die zweite grosse Underdog-EM-Story in Frankreich. Das Team von Chris Coleman wandelt auf den Spuren von Dänemark und Griechenland.
John Charles, Ivor Allchurch und Terry Medwin hiessen 1958 die walisischen Helden, die unter Coach Jimmy Murphy an der WM in Schweden erst im Viertelfinal von Brasilien und einem Treffer des damals 17-jährigen Pelé gestoppt wurden und für den einsamen Höhepunkt in der 140-jährigen Geschichte des walisischen Verbandes sorgten. 58 Jahre später hat die 58er-Generation ihre Nachfolger gefunden. Gareth Bale, Aaron Ramsey, Ashley Williams und Co. sind mit der Halbfinal-Qualifikation – der ersten eines EM-Neulings seit Schweden 1992 – in ihre Fussstapfen getreten.
BBC-Moderator Gary Lineker sprach nach dem 3:1 gegen Belgien in Lille von «einer der grössten Leistungen in der Geschichte des britischen Fussballs». Für viele Experten ist der Lauf der «Dragons» das zweite britische Fussball-Märchen des Jahres nach dem Premier-League-Titel von Leicester City. Wales, am südwestlichen Zipfel Grossbritanniens gelegen und mit 3,1 Millionen Einwohnern das zweitkleinste Land der britischen Inseln, schaffte das, worauf die «Three Lions» seit 1996 vergeblich warten: auf einen Halbfinaleinzug. Nur die englischen Weltmeister von 1966 haben als einziges britisches Team an einer Endrunde mehr Tore erzielt als Wales, das in fünf Spielen zehn Mal traf – und damit so oft wie keine andere Mannschaft.
Trainer Chris Coleman erinnerte in der Stunde seines grössten Triumphs an den Beginn seiner Amtszeit. Mit fünf Niederlagen – unter anderem einem 1:6 gegen Serbien – war der heute 46-Jährige gestartet, erst ein 2:1 gegen Schottland brachte die Wende zum Guten. «Ich kann die Spieler nur immer daran erinnern, woher wir gekommen sind und was es alles brauchte, um hierhin zu gelangen», sagte Coleman. Vor vier Jahren seien sie als Nummer 117 der Welt enorm weit von einem solchen Erfolg weg gewesen. «Aber wenn du hart arbeitest und keine Angst hast zu träumen, dann hast du auch keine Angst zu scheitern.»
Der vertragslose Held
Mann des Spiels gegen Belgien war Hal Robson-Kanu, der vor seinem Tor zum 2:1 mit einer simplen Körpertäuschung die gesamte belgische Abwehr ins Leere laufen liess und damit den Coup möglich machte. Es war der zweite grosse Auftritt des Stürmers an diesem Turnier, nachdem er im Auftaktspiel gegen die Slowakei den späten Siegestreffer erzielte hatte. «Kanu believe it», schrieb die «Sun» und sprach vom «grössten Sieg aller Zeiten». «Hal-elujah» stand auf der Titelseite der «Times».
Seinen grössten Match der Karriere lieferte Robson-Kanu just in jenem Moment ab, in dem er ohne Arbeitgeber da steht. Der 27-Jährige liess den Vertrag mit dem englischen Zweitligisten Reading, bei dem er zwölf Jahre gespielt hatte, Ende Juni auslaufen. In London aufgewachsen, absolvierte Robson-Kanu für diverse englische Junioren-Auswahlen Länderspiele, ehe er den Verband wechselte. Seine Grossmutter ist walisischer Herkunft.
Dass er überhaupt in Frankreich für Furore sorgen kann, war lange Zeit ungewiss, nachdem ihn eine Knöchelverletzung im Frühjahr ausser Gefecht gesetzt hatte. Robson-Kanu gewann den Wettlauf gegen die Zeit und schaffte den Sprung ins Kader von Coleman, der seinen Stürmer «einen Albtraum für jeden Verteidiger» nannte. Der Held des Abends gab die lobenden Worte an seine Kollegen weiter: «Wir haben Weltklasse-Spieler in der Offensive, können aber auch bärenstark verteidigen. Wenn wir diese beiden Elemente kombinieren, haben wir immer eine gute Chance.»
Der Titel ist kein Thema
Treten die Waliser so stark auf wie am Freitag, sind sie im Halbfinal in Lyon gegen Portugal nicht Aussenseiter. Gedanken an ein mögliches Happy-End, wie es Dänemark 1992 und Griechenland 2004 geschafft haben, verschwenden die Briten aber (noch) nicht. «Unsere erste Herausforderung war die Gruppenphase, die nächste der Achtelfinal gegen Nordirland, dann der Viertelfinal gegen Belgien», so Coleman. «Die nächste Herausforderung heisst nun Portugal.»
Fehlen werden am Mittwoch die gesperrten Ben Davies und Aaron Ramsey. «Für sie beide ist es enorm hart», sagte Coleman. Aber sie hätten getan, was hätte getan werden müssen, um dem Team zu helfen. Vor allem der Ausfall von Ramsey wiegt schwer. Der Mittelfeldspieler von Arsenal war gegen Belgien der beste Spieler auf dem Platz und bereitete die ersten beiden Treffer vor. «Er ist einer der herausragenden Spieler an diesem Turnier», so Coleman.