Warum fragt niemand, woher die Ukraine ihre Gas-Schulden hat?

Community-Mitglied Alois K. Hürlimann über die verzerrte Medienwahrnehmung der Ukraine-Krise und nicht gestellte Fragen. Die «westliche» Berichterstattung über «die Ukraine» leidet nach wie vor unter einem Mangel an Faktengenauigkeit. Genauer: Es mangelt ihr an nachprüfbaren Fakten. Sie vermittelt, wie seit Monaten, entweder das, was die PR-Abteilungen Washingtons respektive der Nato-Zentrale mit ihrem vielplappernden Generalsekretär produzieren […]

Community-Mitglied Alois K. Hürlimann über die verzerrte Medienwahrnehmung der Ukraine-Krise und nicht gestellte Fragen.

Die «westliche» Berichterstattung über «die Ukraine» leidet nach wie vor unter einem Mangel an Faktengenauigkeit.

Genauer: Es mangelt ihr an nachprüfbaren Fakten.

Sie vermittelt, wie seit Monaten, entweder das, was die PR-Abteilungen Washingtons respektive der Nato-Zentrale mit ihrem vielplappernden Generalsekretär produzieren oder dann das, was die PR Moskaus respektive all die zahlreichen Adlaten bis hin zu bestellten und bezahlten Putin-Verteidigern produzieren. (Wobei es sehr naiv wäre anzunehmen, die Administration Obama beispielsweise würde solcherlei nicht betreiben!)

Im Speaker’s Corner publiziert die TagesWoche ausgewählte Texte und Bilder von Community-Mitgliedern. Vorschläge gerne an community@tageswoche.ch.

Die Zwischentöne oder die Zwischentexte verschwinden praktisch vollständig, das heisst, sie sind für jene, die sich faktisch informieren möchten, kaum mehr wahrnehmbar. Nun gibt es wieder einen neuen «Höhepunkt»:

Die Verhandlungen zwischen der russischen und der ukrainischen Regierung über die Art, wie die Ukraine – das heisst deren Gasgesellschaften – ihre massiven Schulden bei Gazprom in der Höhe von 1,9 Milliarden Euro begleichen und wie der Gaspreis für die Ukraine in Zukunft gestaltet wird, seien gescheitert, berichteten westliche Medien konsequent.

Erklärt wird, dass die russische Seite nicht auf einen Kompromissvorschlag des EU-Kommissars Günther Oettinger eingetreten sei. Dieser Vorschlag habe eine Sofortbezahlung von einer Milliarde Euro an Gazprom und eine Ratenzahlung der restlichen 900 Millionen Euro bis Ende 2014 sowie eine Preispolitik mit einem Sommer- und einem Wintertarif beinhaltet.

Welche Position die russische Verhandlungsseite eingenommen hat, wird in den (westlichen) Nachrichten, wenigstens in Deutschland, mit keinem Wort vermittelt. Es stellen sich in dieser Gaslieferungs- und Gasrechnungsgeschichte allerdings ganz einfache Fragen zu den ukrainischen Schulden bei der Gazprom:

Warum hat die Ukraine diese enormen Schulden?

Wer ist verantwortlich für unbezahlte Rechnungen?

Fest steht jedenfalls, dass Gazprom die Ukraine immer mit Gas beliefert hat. Fest steht auch, dass die Verantwortlichen der Ukraine Gazprom dafür offenbar nicht vertragsgemäss bezahlt haben.

Die Schulden bestehen seit Jahren. Sie gehen auf die Regierungszeiten von Kutschma und jene der so genannten orangenen Revolutionsparteien zurück. Sie waren unter anderem – davon könnten sich zum Beispiel auch «Korrespondenten» vor Ort recherchierend ins Bild setzen – Gegenstand heftigster Auseinandersetzungen zwischen Präsident Juschtschenko und der Premierministerin Timoschenko, welche später zum Bruch ihres orangenen Bündnisses vom «Maidan 2004» führten.

Bekannt ist auch, dass Timoschenko als Gas-Oligarchin reich geworden ist, und zwar während der Zeit, in der sie seit den späten 1990er-Jahren, in verschiedenen politischen Ämtern, mal russlandfreundlich bis russlandnah in der Ostukraine tätig, mal nationalistisch und russlandfeindlich in Kiew, immer aber korruptiv ausgerichtet, sass.

Daraus ergeben sich weitere einfache Fragen:

Haben die privaten Haushalte in der Ukraine ihren Gasbezug nicht bezahlt ?

Wurden ihnen keine Rechnungen gestellt? Keine Abschlagzahlungen abverlangt?

Oder haben die privaten Haushalte sehr wohl monatlich oder vierteljährlich usw. ihr Gas bezahlt, die ukrainische Gasgesellschaft aber das von den Endverbrauchern eingenommene Geld nicht für Zahlungen an Gazprom, sondern für eigene Zwecke und für Zwecke der Bildung von oligarchen Strukturen verwendet?

Diese Fragestellung müsste endlich sowohl journalistisch, recherchierend etwa, als auch politisch-diplomatisch nachvollziehbar vorgetragen und zügig beantwortet werden. Nicht von Gazprom, sondern von den ukrainischen Gasgesellschaften oder ukrainischen Politikerinnen und Politikern. Und zwar, bevor man «westlicherseits» entweder im Namen von Nato oder der Obama-Administration, quasi aus ideologischen Gründen, die europäischen Staatshaushalte (also Steuergelder) zu sofortigen «Hilfszahlungen» an «die Ukraine» verschiebt, oder den Russen respektive Gazprom unlautere, erpresserische Geschäftspraktiken vorwirft, die womöglich einen «weichen» Nato-Einsatz, mindestens aber einen neuen Kalten Krieg in Europa rechtfertigen würden.

Nun liefert Gazprom seit Jahrzehnten Erdgas nach Europa. Es gab nie – auch nicht zu kältesten Zeiten des Kalten Krieges – irgend eine Liefervertragsverletzung von Seiten der Sowjetunion oder nach deren Ende von Seiten der privatisierten russischen Gazprom.

Seit Jahren allerdings bezahlt die Ukraine ihre Rechnungen nicht – alle andern Länder und staatlichen, halbstaatlichen oder privaten Gasgesellschaften in Europa bezahlen ihre Gazprom-Rechnungen (Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die baltischen Staaten, Deutschland, Österreich, auch die Schweiz usw.)

Die Gazprom hat seit rund zehn Jahren mit ukrainischen Stellen über die Schuldentilgung verhandelt. Und seit Jahren (mindestens seit Kutschmas Regierungszeit) haben alle ukrainischen Stellen, welche mit dem Gasgeschäft zu tun haben, bei der Gazprom Schulden angehäuft und Schuldentilgungsverhandlungen boykottiert, verzögert, verpolitisiert.

Heute nun so zu tun, als sei der böse Putin in hinterlistiger Art dabei, mit Hilfe des Gases «die EU» oder «die Nato» oder «die westliche Welt» auf eine, nämlich seine russische Ukrainevernichtung hin zu erpressen, ist meiner Ansicht nach angesichts der von den ukrainischen Oligarchen und all den korruptionsanfälligen ukrainischen Politikern jedwelcher Couleur betriebenen Selbstbedienung auf Kosten des ukrainischen Staates (der ukrainischen Bevölkerung) schon eine dreiste publizistische Offensive, welche da aus westlichen Machtzentren heraus mitinszeniert wird.

Ich beschränke mich bewusst auf die Auseinandersetzung zwischen Gazprom und «der Ukraine». Dazu eine Feststellung:

Offensichtlich gibt es in der Ukraine «prorussische», aber selbstredend auch «prowestliche» und ein paar «neutrale» Oligarchen, deren Haupttätigkeit darin besteht, ihr Fähnchen nach dem Wind zu richten, der gerade herrscht.

Mir scheint, dass das Beispiel von nicht bezahlten Gasrechnungen vielsagend dafür ist, wie im Fall der Ukraine seit Monaten Informationen produziert werden, die dann so erscheinen, als hätten sie keine Geschichte. Gazprom und «die» Ukraine aber haben eine lange gemeinsame Geschichte. In dieser Geschichte sind Handlungsstrukturen erkennbar, welche eindeutig auf eine massive Verquickung von oligarchisch organisierter Korruption und Politik in der Ukraine verweisen.

Zum Beispiel müsste man die Frage stellen, woher die Soldaten der «ukrainischen Nationalgarde» kommen? Dies ist ein Gebilde, das es erst seit ein paar Wochen gibt.

An die Adresse der EU-Kommission und speziell an jene des Energiekommissars Oettinger gerichtet lautet eine der dringend zu stellenden Fragen, wenn es denn um reale Problemlösungen gehen würde:

Weshalb soll Russland respektive die Gazprom gezwungen werden, «der» Ukraine entgegenzukommen, wenn doch klar ist, dass die Gelder der nichtbezahlten Rechnungen sehr wohl vorhanden sind, nur eben nicht dort, wo sie hingehören, sondern auf oligarchischen Konten und in oligarchischen Beteiligungen bis hin zu europäischen Spitzenfussballteams ihrer Renditenverwirklichung auf rein «privater Basis» entgegengehen?

Warum wird nicht endlich diese ukrainischen Oligarchie, welche sich auch Politiker hält, «unter diplomatischen Druck» gesetzt?

Das Muster namens «Gazprom und Ukraine» ist durchaus auch auf andere «Phänomene» im ukrainischen Machtkampf anwendbar. Zum Beispiel müsste man nachhaltig die Frage stellen, woher denn etwa die Soldaten der «ukrainischen Nationalgarde» kommen. Dies ist ein Gebilde, das es erst seit ein paar Wochen gibt. Aber die Strukturen, die Waffen, das Personal sowie die Einsatzfähigkeit des Gebildes sind offensichtlich viel älter.

Diese Frage ist genau so berechtigt wie jene nach den tschetschenischen Söldnern bei den «Prorussen». Es handelt sich in beiden Fällen wohl um Söldner. Und wohin solcherlei führt, kann man zur Zeit sowohl in Syrien als auch im Irak erfahren.

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