Was «Conducta» unter Haltung versteht

«Conducta» – eine Haltung zum heiligen und stählernen Leben Auf der einen Seite ist es dieses Bild: Ein Zug, genauer: ein Güterzug, nähert sich dem Primarschüler, Chala, mit  unaufhaltsamer Wucht  – wie das  Leben. Allein das Bild eines Güterzuges in einem Land, das kaum mehr Güter kennt, ist eine bildliche Ironie. Erst hört man die […]

Über den Dächern von Havanna in Freiheit

«Conducta» – eine Haltung zum heiligen und stählernen Leben

Auf der einen Seite ist es dieses Bild: Ein Zug, genauer: ein Güterzug, nähert sich dem Primarschüler, Chala, mit  unaufhaltsamer Wucht  – wie das  Leben. Allein das Bild eines Güterzuges in einem Land, das kaum mehr Güter kennt, ist eine bildliche Ironie. Erst hört man die Stahllawine nur in der Ferne. Dann rollt der Zug mit dem beharrlichen Getöse eines Geistes auf Chala zu. Er zwingt ihn von den Geleisen.

Auf der anderen Seite steht dieses andere Bild: Yeni, Chalas kluge Klassenkameradin, heftet, als Carmelas Mann stirbt, ein Heiligenbildchen ans Anschlagbrett der Schüler. Das Bildchen ist dort verboten, und eigentlich müsste Carmela, (phantastisch gespielt von Alina Rodríguez) die alte Lehrerin, es von dort entfernen. So will es das Gesetz. Sie tut es nicht.

Erwachsene Kinder

Erwachsene Kinder

Keine Übersättigung verstellt den Blick auf die Wahrheit

So wuchtig und poetisch wie Ernesto Daranas seinen Film beginnen lässt, erzählt er ihn weiter: Die Jungs wissen bald mit der Gefahr des Güter-Stahlkolosses zu spielen: Sie schärfen ihre Blechdeckel unter seinen stählernen Rädern zu haarscharfen Messern. Er dient Ihnen als Versteck vor den kichernden Mädchen. Chala, der Junge aus Havanna zeigt dem Leben die Stirn. 

Und die Kinder werden auch nicht allein gelassen: Sie haben eine Lehrerin, Carmela, die mit Herz und Blut Pädagogin ist. Sie weiss, dass Verbote nicht verstanden werden, indem sie befolgt werden. Klüger wird durch sie nur, wer sie überschreitet. Das gilt auch für das klügste Mädchen der Klasse, Yeni. Also lässt Carmela das Bildchen hängen. Nur, wer  Verbote nicht befolgt, kann erfahren, was hinter dem Verbot steckt.

Nicht Konsumismus prägt das Leben

Diese Bilderwelten verraten, wie präzise Ernesto Daranas mit seinen Studenten der Filmhochschule in Havanna seine Ballade der Armen komponiert hat. Nicht nur hat er mit seinen Filmstudenten seinen Pasolini und dessen unbedingte Suche nach widersprüchlichen Wahrheiten in den Randgebieten studiert.

Dieser Film spielt mit der ganzen Klaviatur des realistischen Films – klassisch, literarisch, und von phantastischen Hauptdarstellern getragen. Chala (ein hinreissend erwachsenes Kind: Armando Valdés Freire) ist abwechselnd eine erwachsene Kinderfigur, wie sie Pier Paolo Pasolini in Italien hätte erfinden können, oder eine kindliche Erwachsenenfigur, wie Tennessee Williams sie für den jungen Marlon Brando entwerfen konnte.

Mitten in den unsterblichen Kulissen Havannas erweist sich Ernesto Daranas nicht nur als Kenner der grossen amerikanischen Realisten, er vermag auch die letzten Pracht einer sterbenden Hauptstadt der Not einzufangen. Und er führt uns eine erhellende Wahrheit vor Augen: Hier ist die Mehrheit der Menschen in der Not erwachsen geworden. Und was das heisst, sagt er auch. Selbst die Kinder stehen traumlos im Leben.

Die Lehrerin übernimmt fast alles, was Chala fehlt

Die Lehrerin übernimmt fast alles, was Chala fehlt

Das Gegenprogramm zur Zwangsjugendlichkeit des Westens

«Conducta» erlaubt einen Blick in den in die Jahre gekommenen Salsa-Kommunismus. Bildung ist hier nicht geprägt von Konsumzwang. Sie lebt von Persönlichkeiten. Der Bildungsnotstand führt nicht zu leerem Aktivismus. Die Bildung stellt – nicht nur in der Not – Willkür, Entwicklung und Regeln des Systems in Frage.

Dabei spart «Conducta» nicht mit nostalgischen Referenzen: Wenn die Schüler vor dem Unterricht die kubanische Nationalhymne singen, klingt es vielstimmig falsch. Selbst der Siegesruf, der das Gesanges-Ritual mit dem Slogan abschliesst: «Wir werden stark sein wie Che», wirkt etwa so abgetragen, wie ein Che-Guevara-T-Shirt in einer D&G-Boutique.  

Im Kern – widersprüchliche Liebesgeschichten

Ernesto Daranas interessiert sich in Havanna aber nicht nur für die beeindruckende Würde der Menschen am Rande der Gesellschaft. Er führt mit ihnen einen bemerkenswert vielseitigen Diskurs des Widerstandes und – des Aufbaus. Diese Menschen verstossen mit ihren Bemühungen um Bildung nicht gegen die Regeln des Systems. Sie entwickeln ein Neues.

Hier finden keine kindischen Jugend-Rebellionen oder unreife Hooligans-Aufstände statt. Hier reifen Persönlichkeiten. Chala ist im Begriff, von der Bahn abzukommen. Er betreut für seinen Ziehvater Kampfhunde. Er züchtet zu Hause auf dem Dach Tauben. Mit beidem verdient er Geld für seine drogensüchtige Mutter.

Eine Liebe zwischen Taube und Kampfhund

Eine Liebe zwischen Taube und Kampfhund

Seine Angebetete Yeni, lehnt die Kampfhundezucht ab, weil sie illegal ist. Sie ist aber selber kaum in der Situation, Chalas illegale Lebensgier verachten zu können. Sie ist selber illegal in Havanna. Sie braucht Hilfe von Menschen, die für sie Gesetze übertreten. Bisher hat Carmela ihr geholfen, und sie in die Schule geschmuggelt.

Aber nicht nur die Liebesgeschichte der beiden Kinder ist eine Treibfeder in «Conducta». Der Mutter- Sohn-Konflikt ist Träger einer weitergehenden poetischen Kraft: Carmela übernimmt die Funktion der Mutter, der Fördererin, der Erzieherin, derweil die wirkliche Mutter Chalas zunehmend unter der Last ihrer Sucht zusammenbricht.

Kuba, das Gegenproramm zur Überflussgesellschaft

Chala schafft den Spagat zwischen seinem Überlebenskampf und seinen Träumen nicht. Zwischen Kampfhund  und Taube taumelt er hinreissend im poetischen Raum:

Er meistert die Realität seiner drogensüchtigen Mutter immer besser und immer weniger seinen  Schulalltag. Er setzt sich immer besser gegen die verteufelten Jungs der Szene durch und verliert damit doch seine angehimmelte Yeni.

Als die Direktorin der Schule ihn ins Heim stecken muss, hilft auch Carmelas Widerstand als dienstälteste Pädagogin an der Primarschule nicht mehr weiter. Wenn jetzt die Weichen nicht richtig gestellt werden, ist der Junge verloren. Aber ist das Heim, das ihn fürs Leben zeichnen wird, wirklich Rettung?

Ein Blick auf eine Gesellschaft in Hunger  – auf  Bildung

Und wieder kommt eine Stärke Daranas zum Tragen: Er erzählt seine Geschichte aus den Widersprüchen seiner Figuren. Die Lehrerin riskiert alles. Sie sieht sich als die übergeordnete pädagogische Belohnung. Wenn sie wegen Chala gefeuert wird, dann wird er daran wachsen.

Carmela macht sich selber zum eigentlichen Dreh- und Angelpunkt der pädagogischen Dramaturgie: Ihr Widerstand ist Programm. Ihre Regelüberschreitungen sind die Schule des Lebens. Ihr Lernstoff heisst: Wer sich anpasst, bringt es zu nichts, nicht einmal sich zu sich selbst.

Ganz am Ende, gibt Carmela der neuen Direktorin auf die Frage –  was denn nun mit dem verbotenen Heiligenbildchen an der Anschlagswand zu geschehen habe? – eine spitze, offene Bemerkung mit auf den Weg: «Ich glaube, du hast wirklich gar nichts gelernt aus allem …»

Gute Haltung und nicht gute Noten

Es gibt also, neben den Hauptdarstellern, dem zerfallenden Havanna, dem echten Klang eines Oldtimer-Achtzylinders etc., hier vor allem eines zu finden. Einen Bildungs-Diskurs, der noch von «Conducta» spricht, und nicht von Lehrstoff: Die Bildung, die hier gemeint ist, zielt auf  Persönlichkeit, nicht auf Bravheit, sie soll das Leben schulen und nicht die Schule lebendig machen. 

«Conducta» meint, was bei uns lange genug noch als «Betragen» mit jener Bemerkung bewertet wurde, die in unseren Zeugnissen ganz unten stand, dort, wo die Eltern zuletzt – und die Lehrer zuerst hinschauten. Sehr Gut. Gut. Befriedigend. Unbefriedigend.

«Conducta» meint aber mehr. Der Film macht auch deutlich, was unter «Haltung» zu verstehen ist: Nicht nur Unterhaltung. Sondern auch politische Haltung.

Dieser Film ist für beide Fälle: Sehr gut.  

Der Film läuft in den Kult-Kinos.  

Zur Einstimmung hier Los dioses rotos von Ernesto Daranas in voller Länge!

 

Der Film läuft in den Kult-Kinos.  

Zur Einstimmung hier Los dioses rotos von Ernesto Daranas

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