Der Aids-Quilt ist ein Memorial aus Textil. Inzwischen ist es auf 50 Meilen angewachsen, aber bislang erinnert es vor allem an tote weisse Männer. Erst allmählich beginnen AfroamerikanerInnen damit, ihre HIV-Geschichten zu sticken.
Der Quilt erzählt die zerstörerische Spur der Aids-Epidemie durch die USA in Nadelstichen, Collagen und Fotos. Er ist ein Monument aus Textil. Inzwischen ist es auf 48’000 Einzelteile angewachsen und auf 50 Meilen Länge. Ein Ende ist nicht in Sicht.
Längst ist kein Platz in den USA mehr groß genug für den kompletten Quilt. Aber die Mall – die riesige Grünfläche zwischen Kapitol und Lincoln Memorial im Herzen der US-Haupstadt – bietet immerhin den nötigen Raum, um bedeutende Teile davon zu zeigen.
Anfang Juli transportieren Laster der Quilt von Atlanta in Georgia, wo es in Kühlräumen aufbewahrt wird, nach Washington. Während der neun Tage des Smithsonian Folk Festivals breiten ArbeiterInnen morgens den schweren Stoff auf dem Rasen der Mall aus. Mitten auf dem Platz stehen Menschen vor einem kleinen Zeltdach, das kaum Schatten bietet, Schlange, um Din-A-4-Seiten abzuholen, auf denen jeweils 60 Namen von Aids-Opfern stehen. Dann treten sie in die nächste Schlange und warten geduldig, bis sie an ein Mikrofon treten können, um die Namen von ihrer Seite verlesen zu können.
Risse und Tabus der US-Gesellschaft eingearbeitet
Während die Namen der Toten in den Stimmen von lebenden Schulkindern, Erwachsenen und GreisInnen über die vor Hitze glühende Mall hallen, trotzen einzelne Mutige den Temperaturen und spazieren an den gestickten Lebensgeschichten und Adieus vorbei. Fast alle handeln von jungen, weissen Männern, die in den 30er oder 40er Jahren ihres Lebens gestorben sind.
Der Quilt ist ein textilenes Beispiel jener besonderen us-amerikanischen Fähigkeit, Tragödien mit Namen und mit Gesichtern, mit persönlichen Geschichten und mit Gefühl zu füllen.
Doch zugleich sind in den Quilt die tiefen Risse und Tabus der US-Gesellschaft eingearbeitet. Auf den 50 Meilen des Quilt machen schwarze Aids-Opfer nicht einmal eine halbe Meile aus.
Im vierten Jahrzehnt der Aids-Epidemie wird fast die Hälfte (44 Prozent) aller neuen HIV-Infektionen in den USA bei AfroamerikanerInnen diagnostiziert – bei einer Minderheit, die nur 14 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Immer stärker sind afroamerikanische Frauen betroffen. Viele sind von Männern angesteckt worden, die ein Doppelleben führen. Von Männern, die ihre Homosexualität – weiterhin ein Tabu in Teilen der afroamerikanischen Minderheit – geheim halten.
Washington hat hächste HIV-Rate
Die Hauptstadt der USA hat nicht nur den größten Platz in ihrem Zentrum, sondern auch die höchste HIV-Rate der USA. Drei Prozent der Haupstadt-Bevölkerung sind HIV-positiv getestet. Die Dunkelziffer dürfte um nochmal ein bis zwei Prozent höher liegen. In einigen mehrheitlich afroamerikanisch bewohnten Stadtteilen ist die HIV-Rate so hoch wie in den weltweit am stärksten von der Epidemie betroffenen Gebieten des südlichen Afrikas.
In diesem Katastrophengebiet beginnt am 22. Juli die Internationale Aids-Konferenz. Mehr als 20’000 TeilnehmerInnen werden erwartet.
Während der Ausstellung Anfang Juli in der Mall arbeiten AfroamerikanerInnen unter einem Zeltdach an neuen Teilen für den Quilt. Call my name heisst das Projekt, an dem sich auch prominente schwarze SchriftstellerInnen und MusikerInnen beteiligen. Das Projekt hat zwei Ziele: die fehlenden afroamerikanischen Namen in der Quilt hineinsticken. Und das Stigma in der der afroamerikanischen Community beenden.