In Bangladeschs Textilindustrie herrschen nach wie vor miserable Arbeitsbedingungen. Daran haben auch die in den vergangenen Monaten ins Auge gefassten Reformen nichts geändert, wie das Internationale Arbeitsbüro ILO in einem Bericht zum Schluss kommt.
Keine Spur von Reformen im Textilsektor von Bangladesch: Die Löhne in Bangladesch zählten zu den tiefsten weltweit, heisst es in dem 170-seitigen Dokument, das am Montag in Genf vorgestellt wurde. Geändert habe an der Situation auch nichts, dass das Bruttoinlandprodukt (BIP) des südostasiatischen Landes zuletzt überdurchschnittlich stark wuchs, im Jahr 2011 um 7 Prozent im Vergleich zu 5,8 Prozent im Durchschnitt des Jahrzehnts davor.
Zustande gekommen sei dieses verstärkte Wachstum vor allem dank der Textilexporte. So gingen 2011 insgesamt 4,8 Prozent der weltweiten Ausfuhren im Textilbereich auf das Konto Bangladeschs. 1990 waren es noch 0,6 Prozent gewesen. Gleichzeitig kletterte der Anteil, den Bangladeschs Textilexporte am BIP des Landes ausmachen, von 5 auf 23 Prozent. Vier von fünf Kleidungsstücken gehen heute nach Europa oder in die USA.
Da jedoch die Textilindustrie in Bangladesch überhaupt nicht reguliert sei, habe sich das wirtschaftliche Wachstum in miserablen Arbeitsbedingungen niedergeschlagen. Dies verhindere ein nachhaltiges Wachstum, schreibt die ILO im Bericht. Nirgendwo sonst käme es zu solch schlimmen Industriekatastrophen, wie etwa dem Einsturz des Fabrikgebäudes Rana Plaza, bei dem im April dieses Jahres 1129 Menschen ums Leben kamen.
Besserung der Lage möglich
«Seit diesem Unfall hat sich eine gewisse Dynamik entwickelt», sagte Gilbert Houngbo, stellvertretender ILO-Direktor, am Montag vor den Medien in Genf. Die internationale Gemeinschaft habe sich mobilisiert, so dass bis Ende Jahr eine Besserung der Lage zu erwarten sei.
Das im vergangenen Monat von der ILO und der Bangladescher Regierung aufgegleiste Programm für den Textilsektor solle die Arbeitsplätze in den rund 3400 Fabriken sicherer machen.
Gleichzeitig wies Houngbo darauf hin, dass die Bemühungen der Regierung in Dhaka für bessere Arbeitsbedingungen auch nur daher rühren könnten, dass im kommenden Januar Wahlen sind. Es bestehe daher die Gefahr, dass die angestrebten Reformen in der Folgezeit wieder im Sande verliefen. Die Rekrutierung von neuen Arbeitsinspektoren habe eben erst begonnen.
Tiefster Mindestlohn der Region
Nach landesweiten Protesten hatten die rund vier Millionen Textilarbeiterinnen und -arbeiter Bangladeschs in der letzten Woche einen ersten Erfolg feiern können: die Arbeitgebervereinigung erklärte sich einverstanden mit einer Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes von 39 auf 68 Dollar.
Die Regierung hat der Vereinbarung aber noch nicht zugestimmt. Und einigen Angestellten ist der Betrag zu wenig hoch; sie fordern mindestens 100 Dollar pro Monat.
Betrachtet man die Mindestlöhne in anderen Textilproduzentenländern der Region, so steht Bangladesch mit 68 Dollar noch immer am schlechtesten da. In Indien verdienen Textilarbeiter mindestens 71, in Sri Lanka 73, in Vietnam 78, in Pakistan 79 und in Kambodscha 80 Dollar.
Sozialleistungen sind Fremdwort
Zwar ist die Armut in Bangladesch laut offiziellen Statistiken der Regierung zuletzt etwas zurückgegangen. 2010 lebten aber gleichwohl noch immer 76 Prozent der 164 Millionen Landeseinwohner mit weniger als 2 Dollar am Tag, was der höchsten Armutsquote in der Region entspricht. Sozialleistungen sind in Bangladesch ein Fremdwort, nur 10 Prozent der Arbeitstätigen kommen in ihren Genuss.
Und da die Bevölkerung jährlich um 1,6 Prozent wächst, strömen jedes Jahr gegen 2 Millionen Menschen neu auf den Arbeitsmarkt, der selber jährlich nur 200’000 neue Stellen schafft. Die Schwarzarbeit nimmt deshalb ständig zu, von 75 Prozent der Beschäftigten im Jahr 2000 auf 87 Prozent im Jahr 2010. Dies ist der mit Abstand höchste Wert aller umliegenden Länder.
Immer mehr Menschen wandern aus
Als Folge der prekären Verhältnisse suchen viele Junge ihr Glück im Ausland, die meisten in den Golfstaaten, etwa den Vereinigten Arabischen Emiraten oder im Emirat Katar. Jedes Jahr erhöht sich die Anzahl der Auswanderer um das Vierfache.
So erstaunt es nicht, dass sich ein immer grösserer Teil von Bangladeschs BIP aus den Geldüberweisungen der Ausgewanderten zusammensetzt. Im Jahr 2011 waren es 12 Milliarden Dollar, die 10,8 Prozent des BIP ausmachten. Dies waren fünf Mal mehr als noch vor zehn Jahren.
Als Quintessenz seines Berichts fordert die ILO von der Bangladescher Regierung die Einführung einer stringenten Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Nur so könnten die Lebensbedingungen der Menschen in Bangladesch auf nachhaltige Weise verbessert und gleichzeitig der wirtschaftliche Aufschwung beibehalten werden.