Die kommende Legislaturperdiode wird geprägt sein vom Thema Europa, prophezeit unser Autor und erklärt, welche Optionen die Schweiz hat.
Am 18. Oktober sind Wahlen, und in der kommenden Legislaturperiode wird das Thema Europa hohe Priorität geniessen. Wir dürfen dem Thema Europa deshalb nicht länger ausweichen oder es denen überlassen, die sowohl verächtlich auf die EU herabblicken als auch sich umgekehrt vom «Monster Brüssel» bedroht fühlen.
Vorweggenommen sei, dass die EU in keinem guten Zustand ist. Es fragt sich aber, ob die Ursachen dafür bei der EU zu suchen sind oder nicht eher bei den EU-Mitgliedsstaaten. Noch wichtiger erscheint mir die Frage, ob die Antwort auf den heutigen Zustand der EU «mehr nationale Souveränität» oder «mehr Europa» heissen muss. Diese Frage stellt sich nicht nur für die Schweiz, sondern ebenso für die Mitgliedsländer der EU.
Wem das Verhältnis Schweiz-EU am Herzen liegt, kommt nicht darum herum, den Menschen das europäische Projekt näher zu bringen. Dazu wünsche ich uns allen viel mehr Mut! Wir können schliesslich auch keine tragfähige Beziehung zu Menschen aufbauen, die uns fremd bleiben. Wer mit Blick auf «Europa» nur von wirtschaftlichen Interessen der Schweiz spricht, bringt den Menschen «Europa» nicht näher und schadet so letztlich auch seinen wirtschaftlichen Interessen.
Europa den Menschen näher bringen heisst in erster Linie darüber zu sprechen, was Selbstbestimmung und Souveränität in einer globalisierten Welt bedeuten – nämlich Mitbestimmung! Den Menschen die europäische Idee näher zu bringen bedeutet noch nicht, den EU-Beitritt zu propagieren! Es wäre gleichermassen fahrlässig, das Thema EU einfach der «Neuen Europäischen Bewegung Schweiz» (Nebs) wie den Populisten zu überlassen. Das Gelingen des europäischen Projekts und ein gutes Verhältnis mit der EU sind im vitalen Interesse von uns allen. Deshalb ist es auch Aufgabe von uns allen, den Menschen das europäische Projekt und die EU näherzubringen bzw. verständlich zu machen.
1. Verhältnis CH-EU: Blockade des bilateralen Wegs
Heute ist dieses Verhältnis Schweiz-EU blockiert. Wie kam es dazu?
Mit den «Bilateralen» hat die Schweiz Teile des gemeinsamen europäischen Rechts («EU-Acquis») übernommen – sich diesem Recht sektoriell unterstellt. Die EU verlangt nun eine «Erneuerung des bilateralen Wegs»: Die EU fordert von der Schweiz die Einführung von Mechanismen zur Wahrung der Rechtseinheit im Marktzugangsbereich. Im Einzelnen fordert die EU:
- die dynamische Übernahme der Anpassungen des gemeinsamen Rechts (Rechtsanpassung) sowie
- die Überwachung der Anwendung dieses Rechts, die Auslegung dieses Rechts und die Rechtsprechung über dieses Recht durch die eigens für diesen Zweck geschaffenen Überwachungsbehörden bzw. Gerichte der EU bzw. des EWR.
Der Standpunkt der EU ist der folgende: Wenn sich die Schweiz (sektoriell) dem gemeinsamen Recht unterstellt, um (sektoriell) Zugang zum gemeinsamen Markt zu erhalten, der sein Dasein erst der Verwirklichung dieses gemeinsamen Rechts verdankt – dann soll sich die Schweiz (sektoriell) auch den Behörden und Gerichten fügen, die von der Rechtsgemeinschaft eigens zum Zweck der Verwirklichung dieses gemeinsamen Rechts geschaffen wurden. Das klingt eigentlich logisch.
Der Bundesrat spricht sich zwar ebenfalls für die einheitliche Rechtsanpassung, Rechtanwendung, Rechtsauslegung und Rechtsprechung aus, will jedoch aus souveränitätspolitischen Gründen, dass die Schweiz mit ihren eigenen Behörden für die Wahrung der Rechtseinheit sorgt. Dies wird von den übrigen Marktteilnehmern, die sich den zuständigen supranationalen Behörden zu fügen haben, verständlicherweise nicht mehr goutiert.
Lassen Sie mich diese Situation zwischen der Schweiz und der EU in ein Bild bringen: Wir Schweizer verhalten uns wie eine Nationalmannschaft, die an den Europameisterschaften teilnehmen aber autonom darüber befinden will, ob sie ein Tor kassiert hat oder nicht. Nicht thematisiert in unseren Europadebatten wird – im übertragenen Sinn –, dass erst die «fremden» Schiedsrichter sowie ein «Souveränitätsverlust» der teilnehmenden Mannschaften ein Fussballspiel zum Fussballspiel und eine EM zur EM (sprich: den Binnenmarkt zum Binnenmarkt) machen.
Dieser Streit zwischen der EU und der Schweiz über die zuständigen Behörden hinsichtlich der vier Themenbereiche Rechtsanpassung, Rechtsanwendung, Rechtsauslegung und Rechtsprechung trägt den Titel «institutionelle Fragen» (das von der EU geforderte «Rahmenabkommen» bezeichnen rechtskonservative Kräfte auch als «Kolonialvertrag», der einen «schleichenden EU-Beitritt» bedeute).
Solange es kein solches Rahmenabkommen gibt, sagt die EU auch «Nein» zum Abschluss weiterer Marktzugangsabkommen.
Mit Annahme der Masseneinwanderungsinitiative ist diese «institutionelle Frage» und damit die Erweiterung des Marktzugangs für Schweizer Unternehmer etwas in den Hintergrund gerückt. Denn die MEI stellt mit ihrem Angriff auf die Personenfreizügigkeit den bilateralen Sonder- und «Königsweg» als solchen in Frage, weil das ganze Vertragswerk der Bilateralen mit seinen 20 Haupt- und über 100 Nebenabkommen von der Personenfreizügigkeit abhängt («Guillotine-Klausel»).
Zur Überwindung der Blockade im Verhältnis Schweiz-EU braucht es also sowohl eine Lösung im Bereich der Personenfreizügigkeit als auch eine Lösung der «institutionellen Frage». Von einer solchen Gesamtlösung sind wir heute meilenweit entfernt!
2. Kurzer Überblick über die Situation in der EU
Aber auch die EU leidet unter einer Blockade. Blockiert ist eine «Vertiefung» der europäischen Integration in Richtung «politische Union». Euro-, Schulden- und Flüchtlingskrise zeigen, dass ein gemeinsames und verbindliches Handeln schwieriger scheint denn je. Und dies, obwohl viele Probleme in einer wirtschaftlich globalisierten, interdependenten Welt nur noch gemeinsam gelöst werden können – man denke etwa an Umwelt-, Steuer- oder Sozialdumping. Wir sind Teil Europas und mit dessen Schicksal untrennbar verbunden.
Angesichts weltumspannender Gefahren und dieser europäischen Schicksalsgemeinschaft, die wir sind, reicht der Nationalstaat als Gehäuse der Demokratie nicht mehr aus. Die Demokratie bedarf einer Transnationalisierung. Einer solchen Transnationalisierung der Demokratie hat sich die EU verschrieben.
Das Festhalten der Mitgliedsstaaten an nationaler Souveränität ist die Ursache für die Handlungsunfähigkeit der EU in wichtigen Politikbereichen.
Oder um es mit den Worten von Andi Gross zu sagen: Die Demokratie bedarf einer Europäisierung – und nicht nur Europa einer Demokratisierung, wie wir Schweizer mit Blick auf unsere Nachbarn oft belehrend meinen.
Gemeinsames Handeln auf europäischer wie globaler Ebene ist ein Gebot der Vernunft. Es erfordert aber, dass jeder Staat ein Stück weit auf seine Souveränität verzichtet. Damit tun sich nicht nur wir Schweizer schwer. Aussen-, Verteidigungs-, Wirtschafts-, Finanz-, Fiskal-, Asyl- und Einwanderungspolitik gehören traditionell zum Kernbereich der nationalen Souveränität.
Dieses Festhalten der Mitgliedsstaaten an nationaler Souveränität ist die Ursache für die Handlungsunfähigkeit der EU in wichtigen Politikbereichen, die nun paradoxerweise der EU anstatt ihren Mitgliedern angelastet wird und die es wiederum schwierig macht, den Menschen zu vermitteln, weshalb sie Souveränität ausgerechnet an ein Gebilde abtreten sollen, das sich so handlungsunfähig zeigt wie die EU. Vergessen geht dabei, dass gerade der Nationalstaat die Probleme nicht lösen kann, die ihn übersteigen.
3. Rückwirkungen des Zustands der EU auf die Europapolitik der Schweiz
Vor diesem Kommunikationsproblem, das die EU hat, stehen auch wir EU-Befürworter und -befürworterinnen in der Schweiz. Ex-IKRK-Chef Jakob Kellenberger sagte kürzlich, begründungspflichtig für ein Land in der Lage der Schweiz sei eigentlich nicht der EU-Beitritt, sondern seine Ablehnung. In den Debatten ist es genau umgekehrt: Es sind die EU-Befürworter, die sich rechtfertigen müssen. Sie werden im besten Fall nicht verstanden und im schlechtesten Fall als LandesverräterInnen hingestellt.
Die EU ist beliebte Projektionsfläche für das Bedrohliche und gehört zum festen Repertoire des Ressentiments, das einerseits gegen Schwache und Fremde, anderseits gegen «die da oben»: gegen Regierung, Parlament aber auch gegen Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Völkerrecht und gegen eine Einordnung in die Staatenwelt polemisiert. Begründungspflichtig ist, wer sich in die Staatenwelt einordnen will, und nicht, wer dies nicht will. Die Mehrheit fordert «mehr Schweiz» und nicht «mehr Europa». Das macht es auch für Politiker schwierig, sich für eine starke Einbindung der Schweiz in Europa zu engagieren.
Die EU ist beliebte Projektionsfläche für das Bedrohliche und gehört zum festen Repertoire des Ressentiments.
Wichtig für das Verhältnis Schweiz-EU wäre, dieses Verhältnis nicht mehr unter dem Aspekt der Konkurrenz zu sehen, sondern unter dem Aspekt der Partnerschaft. Wer wie Christophe Darbellay die Zustimmung zu einem Rahmenabkommen davon abhängig macht, dass «die Schweiz Vorteile daraus ziehen wird», kann den Menschen Europa nicht näher bringen. Er kann nicht verständlich machen, dass es beim Gemeinschaftsprojekt Europa, mit dem die Schweiz bilateral verzahnt ist, gerade nicht um den Kampf aller gegen alle um falsch verstandene Eigeninteressen geht. Im Interesse eines (wie auch immer gearteten) guten Verhältnisses zwischen der Schweiz und der EU müssen wir dieses Konkurrenzparadigma demontieren anstatt bekräftigen.
In den europapolitischen Optionen der Schweiz spiegelt sich das ganze Spektrum zwischen diesen beiden Polen «mehr nationale Souveränität» und «mehr europäische Einbindung»: Gewisse Akteure wollen zurück zu Freihandelsabkommen, also noch vor die Bilateralen zurück. Andere wollen die Rettung und Weiterführung der bisherigen Bilateralen so, wie sie im Augenblick sind. Wieder andere wollen die Bilateralen mit Rahmenabkommen und damit die Möglichkeit des Marktzugangs in den Bereichen Strom, Finanzdienstleistungen usw. Die Vorstellungen über ein solches Rahmenabkommen gehen ihrerseits weit auseinander, und «nicht alles, was in der Schweiz zurzeit für das bilaterale Recht diskutiert wird, ist auch machbar» (Christa Tobler). Nach wie vor möglich ist ein EWR-Beitritt, der sich unter souveränitätspolitischen Gesichtspunkten gegenüber einem Rahmenabkommen sogar als vorteilhafter erweisen könnte.
Wir EU-Befürworter und -befürworterinnen von der Nebs halten die vierte Option hoch: Eine EU-Vollmitgliedschaft – wenigstens als Zukunftsperspektive und nicht zuletzt aus demokratiepolitischen Gründen.
4. Was nicht vergessen werden darf
Denn nicht vergessen werden darf der Souveränitätsverlust, der darin liegt, dass wir nicht über die EU-Gesetze mitbestimmen können, die uns betreffen und die wir vorgeblich ganz «autonom» (also selbstbestimmt) übernehmen.
Wir könnten zwar mitbestimmen, wenn wir bereit wären, Souveränität abzugeben. Wir wollen aber keine Souveränität abgeben, um an der Illusion festzuhalten, wir könnten in einer interdependenten Welt alleine über alles bestimmen, was uns betrifft.
Dieses Festhalten an einer Illusion ist einer Demokratie nicht würdig, denn es kostet eine «geteilte» Souveränität, die wir zusammen mit anderen haben könnten – eine Souveränität, die es im Gegensatz zur absoluten tatsächlich gibt.
Wir wollen keine Souveränität abgeben, um an der Illusion festzuhalten, wir könnten in einer interdependenten Welt alleine über alles bestimmen.
Die Schweiz entstand auch nur dank mutiger Bürger, die für eine Abgabe von Souveränität nach oben eintraten. Notwendige Kehrseite ihrer Entstehung war, und notwendige Kehrseite ihres Bestehens ist ein Souveränitätsverlust der Kantone (BV Art. 3). Dieser Verlust gereichte und gereicht uns allen zum Gewinn.
Nicht vergessen werden darf zudem, dass wir mit unserem Abseitsstehen von der EU eine Institution schwächen, die zum Vorteil aller Europäerinnen und Europäer Werte wie Sicherheit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch in einem überstaatlichen, gemeinsamen Rahmen denkt, zu verwirklichen sucht und in einem beachtlichen Mass bereits verwirklicht hat.
Sicherheit, Freiheit und Demokratie gibt es in Zukunft entweder auch auf einer überstaatlichen Ebene oder in abnehmendem Masse. Die Nicht-Mitgliedschaft in der EU läuft deshalb unserem Interesse als Bürgerinnen und Bürger Europas grundsätzlich zuwider.
Schliesslich können wir als Bürgerinnen und Bürger des Nicht-EU-Mitglieds Schweiz von Glück reden, dass andere einen gemeinsamen Sicherheits-, Rechts- und Demokratieraum schufen, der zu einer noch nie dagewesenen Friedensperiode in Europa führte.