Weltkrieg überschattete Eröffnung des Nationalparks vor 100 Jahren

Das Gebiet des Schweizerischen Nationalparks war bei der Gründung vor 100 Jahren keine heile Engadiner Naturwelt. Der Bergbau und Holzschläge hatten Spuren hinterlassen. Und die Anfänge des Parks wurden überschattet vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Das Cluozzatal, der älteste Teil des Nationalparks (Archiv) (Bild: sda)

Das Gebiet des Schweizerischen Nationalparks war bei der Gründung vor 100 Jahren keine heile Engadiner Naturwelt. Der Bergbau und Holzschläge hatten Spuren hinterlassen. Und die Anfänge des Parks wurden überschattet vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

100 Jahre Schweizerischer Nationalpark, 100 Jahre unberührte Natur? Tatsächlich hat der Mensch seit der Parkgründung am 1. August 1914 nicht mehr eingegriffen in die alpine Landschaft des nationalen Naturreservats im Engadin mit den strengen Schutzvorschriften.

Ganz andere Verhältnisse herrschten zuvor über Jahrhunderte hinweg. Die Spuren der früheren Wald- und Alpnutzungen seien an vielen Stellen noch deutlich sichtbar, schrieb der Bündner Politiker Jon Domenic Parolini in seiner Doktorarbeit, in der er die Waldnutzungen auf dem Parkterritorium unter die Lupe nahm.

Im Vergleich mit anderen Wäldern wurden die Bäume im Nationalpark sogar stark genutzt. Die Erz- und Eisenverarbeitung in der Region verlangte nach viel Brennholz. Zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert veränderte der Bergbau die Landschaft des späteren Parks. Namen von Teilgebieten wie «Il Fuorn» (Schmelzofen) erinnern an diese Zeit.

Ganze Talhänge kahlgeschlagen

Später, vom 17. bis ins 19. Jahrhundert, versorgten die Engadiner die Saline Hall im Tirol mit Brennholz. Die Abholzung war zeitweise derart intensiv, dass Klagen über die Holzverschwendung laut wurden. Laut Parolini wurden «ganze Talhänge für die kommerzielle Nutzung kahlgeschlagen».

Die Holzverkäufe waren für die Gemeinden in der Region eine bedeutende Einnahmequelle. Entsprechend pikiert reagierten sie, wenn übergeordnete Behörden die Abholzung einzudämmen versuchten. Erste Massnahmen gegen die Kahlschläge ergriff der Kanton Graubünden nach 1835, so dass die Wirtschaftlichkeit der Holzschläge zurückging.

Die Weidverpachtung an Bergamasker Schafhalter war ein weiterer bedeutender Wirtschaftsfaktor. Diese Einnahmequelle versiegte jedoch wegen der Maul- und Klauenseuche in Italien.

Rettende Nationalparkidee

Das führte dazu, dass die Engadiner Gemeinden Anfang des 20. Jahrhunderts fast keine Einnahmequellen mehr hatten und ihnen die Suche der Naturschutzpioniere nach einem Gebiet zur Gründung des Nationalparks gerade gelegen kam.

Jon Domenic Parolini, der nächstes Jahr das Amt des Bündner Volkswirtschaftsdirektors übernimmt, bilanziert die Zeit vor der Gründung des Nationalparks so: Betrachtet man die Gebietsnutzung vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, so wird ersichtlich, dass wirtschaftliche Überlegungen fast immer die treibende Kraft waren.

Insoweit hatten die Gründerväter des Nationalparks im Kreise der damaligen Naturforschenden Gesellschaft (heute Akademie der Naturwissenschaften) eine gute Nase, als sie sich das Gebiet sichern konnten. Der erhoffte touristische Aufschwung stellte sich allerdings erst in den 1950er Jahren und später ein.

Mobilmachung überschattet Eröffnung

Die Eröffnung oder Einweihung des ersten und bisher einzigen Schweizerischen Nationalparks am 1. August 1914 ging unter im europäischen Säbelrasseln. Es herrschte Kriegsstimmung, wie ein Blick in die Bündner Tageszeitungen vor 100 Jahren zeigt.

Die Bündner Blätter berichteten am 1. August 1914 über den Beginn des Ersten Weltkrieges, über den «Österreichisch-serbischen Krieg». Dominates Thema zu jener Zeit war die allgemeine Mobilmachung in der Schweiz auf den 3. August. An diesem Tag wählte die Bundesversammlung Ulrich Wille zum General der Schweizer Armee.

Ein Inserat der Graubündner Kantonalbank in den Tageszeitungen am 1. August bringt die damalige Lage gut zum Ausdruck. Die Direktion der Bank liesse verlauten: «Die bevorstehende Mobilmachung nötigt uns infolge Personalmangels, den grössten Teil unserer Agenturen anfangs nächster Woche zu schliessen.»

Die Leute hatten keine Zeit, sich über die Entstehung des Schweizerischen Nationalparks zu freuen. Die Bevölkerung hatte andere Sorgen.

Heute strömen pro Jahr etwa 150’000 Besucherinnen und Besucher in den Park, der mit 170 Quadratkilometern etwa so gross ist wie das Fürstentum Liechtenstein. Die jährliche touristische Wertschöpfung gibt die Parkverwaltung mit 20 Millionen Franken an.

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