«Wenn das Organisieren von Olympischen Spielen so einfach wäre, würden es 200 Nationen machen»

Jürg Stahl ist nicht nur Nationalratspräsident, sondern seit 101 Tagen auch Präsident von Swiss Olympic. Im Interview mit der Nachrichtenagentur sda spricht er über Kritik bezüglich zusätzlicher Bundesgelder für den Sport sowie über olympische Enttäuschungen, Hoffnungen und Chancen. Am Dienstagabend befindet das Sportparlament von Swiss Olympic über eine Schweizer Olympia-Kandidatur für 2026.

Jürg Stahl blickt auf ein emotionales erstes Jahresquartal zurück.

(Bild: sda)

Jürg Stahl ist nicht nur Nationalratspräsident, sondern seit 101 Tagen auch Präsident von Swiss Olympic. Im Interview mit der Nachrichtenagentur sda spricht er über Kritik bezüglich zusätzlicher Bundesgelder für den Sport sowie über olympische Enttäuschungen, Hoffnungen und Chancen. Am Dienstagabend befindet das Sportparlament von Swiss Olympic über eine Schweizer Olympia-Kandidatur für 2026.

Jürg Stahl, seit einigen Wochen haben Sie ein ausserordentlich hohes Arbeitspensum zu bewältigen. Wann haben Sie zum letzten Mal mit Ihren Kollegen in der Männerriege des TV Brütten turnen können?

Ich führe diesbezüglich nicht Buch. In den ersten drei Monaten dieses Jahres war ich, wenn ich mich nicht täusche, sechsmal dabei. Mich erstaunt es, ich komme trotz meines dichten Terminkalenders tatsächlich noch dazu. Ich zelebriere diese Turnabende auch ein wenig. Mein Umfeld weiss, dass es schwierig ist, am Donnerstagabend mit mir Termine zu vereinbaren.

Sich auch einmal komplett auszuklinken vom Alltag als Nationalratspräsident und Präsident von Swiss Olympic, tut sicherlich gut.

Meine Turnkameraden lassen mich Kamerad sein. Wenn ich nicht von mir aus beginne, von Erlebnissen zu erzählen, fragen sie höchst selten etwas. Sie sind sehr diskret. Demnächst gehen wir gemeinsam an ein regionales Turnfest. Darauf freue ich mich. Nun kann ich meine Agenda eher beeinflussen als zuvor als Vizepräsident des Nationalrats oder als Exekutivrat von Swiss Olympic.

Nervt es Sie, sich ständig für Ihr derzeit sehr hohes Arbeitspensum rechtfertigen zu müssen und zu erklären, wie Sie alles bewältigen können?

Es hat sich etwas entspannt. Anders wäre es natürlich, wenn mir Fehler unterlaufen würden. Es ist mir gelungen, an den ersten 100 Tagen als Präsident von Swiss Olympic eine hohe Präsenz zu haben, aber auch den Nationalrat gut zu führen. Zwei von vier Sessionen sind ja bereits Vergangenheit – ohne formelle Fehler oder kritische Nachbetrachtungen. Wir können uns zudem glücklich schätzen, dass wir im Haus des Sports in Ittigen wirklich ein gutes Team haben, sowohl im Leistungssport als auch in der Administration bei Swiss Olympic. Die Abläufe funktionieren, nachdem es vor fünf, sechs Jahren noch eine hohe Fluktuation gegeben hat. Wenn es nicht funktionieren würde, gäbe es schon eine Angriffsfläche. Um im Turnerischen zu bleiben: Es ist und bleibt ein Spagat dieses Jahr. Manchmal macht der Blick in die Agenda sogar mir ein wenig Angst.

«Mein Ansatz ist es, mit den Leuten zu reden, ohne dass sofort Pendenzen bereinigt oder Entscheide gefällt werden müssen.»

Wie muss man sich Ihre ersten 100 Tage als Swiss-Olympic-Präsident vorstellen? Viel Networking, Studium von vielen Dossiers?

In den ersten Monaten fand natürlich sehr viel Wintersport statt. Wir hatten eine Heim-WM in St. Moritz und viele Weltcup-Veranstaltungen. Dazu gibt es die Endphase im nationalen Bewerbungsprozess für die mögliche Olympia-Kandidatur 2026. Ich war sechsmal im Engadin, aber nicht sechsmal an der Ski-WM – sondern zweimal. Ich war beim Bob-Weltcup, ich war mit Special Olympics, Athleten mit geistiger Beeinträchtigung, im Trainingslager, dazu an der Para-Bob-WM oder am White Turf. Networking fand da natürlich statt. Mein Ansatz ist es, mit den Leuten zu reden, ohne dass sofort Pendenzen bereinigt oder Entscheide gefällt werden müssen. Wenn man wenig Zeit hat, dann nutzt man diese Zeit ziemlich effizient. In meinen ersten Monaten hatte ich viele positive Erlebnisse. Ich bin ein glücklicher Präsident, wenn man die Resultate des Schweizer Sports im ersten Quartal betrachtet.

Welches war für Sie denn bislang der emotionalste Sport-Moment als Präsident von Swiss Olympic?

Beeindruckt war ich vom Siegerinterview von Beat Feuz an der WM in St. Moritz, als er wiederholt sagte, wie schön es sei, den Gewinn der Goldmedaille im eigenen Land geschafft zu haben. Das hat mir irgendwie Kraft gegeben, auch im Zusammenhang mit einer möglichen Olympia-Kandidatur. Unsere Athleten haben ja die Möglichkeit, die ganze Welt zu bereisen. Sie sind weltweit gern gesehene Gäste. Beat Feuz aber hat betont, wie wichtig es ihm war, zuhause zu gewinnen. Weiter gab es die zwei Tage, die ich mit den Athleten von Special Olympics Switzerland verbracht habe. Das ist etwas, was einen auf der menschlichen Ebene wieder in die Realität zurückholt. Und dann gab es natürlich jenen Moment, der zu Tränchen rührte: Der Sieg von Roger Federer in Melbourne, dieses unglaubliche Comeback. Diese drei Dinge sind mir emotional am nächsten gegangen. Aber daneben gab es selbstverständlich viele weitere Höhepunkte.

Zum Beispiel die zusätzlichen 15 Millionen Franken pro Jahr, mit denen der Bund künftig den Nachwuchs-Leistungssport fördert.

Da habe ich mich auch in der Verantwortung gefühlt zu beweisen, dass es geht. Dies war eher ein technischer Vorgang, den ich beeinflussen konnte. Die vorhin angesprochenen drei Ereignisse konnte ich nicht beeinflussen. Die 15 Millionen haben mich sicherlich gefreut, viel mehr jedoch die Reaktionen vieler Verbandspräsidenten. Ich war in diesem Dossier seit drei, vier Jahren fest drin – noch bevor ich Präsident von Swiss Olympic wurde. Ich war überzeugt, dass ich dies, zusammen mit anderen, schaffe.

Aber die Erleichterung bei Ihnen muss gleichwohl gross gewesen sein, als nach dem Ständerat auch der Nationalrat zugestimmt hat. Wenn Sie als Nationalratspräsident in diesem sportpolitischen Geschäft das Parlament nicht hinter sich gebracht hätten …

Klar, der Druck war gross. Dieser Erwartungshaltung stelle ich mich aber auch gerne. Die Rolle als Nationalratspräsident war in diesem Fall eher ein Hemmnis, denn in dieser Funktion äussert man sich bei der Abstimmung und der Vorbereitung nicht über den Inhalt. Dass die deutliche Zustimmung des Parlaments in meine ersten 100 Tage als Swiss-Olympic-Präsident gefallen ist, ist sehr erfreulich. Es ist aber ein Resultat von jahrelanger Arbeit.

«Diese zusätzlichen 15 Millionen Franken vom Bund sind auch eine Form von Wertschätzung. Der grosse Brocken wird aber nach wie vor über die Verbände geleistet, über Partnerschaften und das Ehrenamt.»

Was entgegnen Sie Leuten, die sagen, es sei nicht die Aufgabe des Staates, den Leistungssport zu fördern?

Ich denke, wir haben einen pragmatischen, schweizerischen Weg gefunden. Wir haben in der Schweiz eine ausgeprägte Trennung zwischen Staat und Sport. Ich habe viele Amtskollegen bei anderen Nationalen Olympischen Komitees, die der Partei des jeweiligen Staatspräsidenten nahe stehen. Dies wäre bei uns nicht denkbar. Es käme keiner Partei oder keinem Bundespräsidenten in den Sinn, für einen Kandidaten für das Amt des Swiss-Olympic-Präsidenten zu werben. Diese zusätzlichen 15 Millionen Franken vom Bund sind auch eine Form von Wertschätzung. Der grosse Brocken wird aber nach wie vor über die Verbände geleistet, über Partnerschaften und das Ehrenamt. Spitzensport, Breitensport und Nachwuchssport: Hier gibt es einfach Interaktionen. Es gibt kein Land, in welchem es nur Spitzensport oder nur Breitensport oder nur Nachwuchssport gibt. Diese Interaktion zieht sich durch alles durch, was wir vorhin besprochen haben. Ein Roger Federer kommt nicht als Nummer 1 zur Welt. Ein Beat Feuz war zweimal nahe dran, seine Karriere zu beenden. Hinter seinen jetzigen Erfolgen stehen medizinische Leistungen, sein persönliches Umfeld. Ein Dario Cologna ist keine Einzelfirma, ebenso wenig ein Nino Schurter. Um einen Nino Schurter zu «kreieren», braucht es Hunderte kleiner Ninos. Darum ist diese Interaktion so wesentlich. Und darum kann man nicht sagen, der Staat unterstütze mit diesen 15 Millionen den Spitzensport. Es ist ein Gesamtkonzept. Hinzu kommen die Infrastrukturleistungen. Hier muss ich den Gegnern des angeblichen Staatssports Folgendes entgegnen: Unsere Turnhallen, unsere Spielplätze, die Velowege, unsere Strassen-Infrastruktur werden von Hunderttausenden von jungen Leuten genutzt, die Freude an der Bewegung haben. Hier spricht niemand von Staatssport.

Für was soll das zusätzliche Geld konkret eingesetzt werden?

Wir müssen Schwerpunkte setzen. Ansetzen wollen wir in der Trainerausbildung. Eigentlich müssten wir die besten Trainer für die 14- bis 18-Jährigen haben. Verbesserungen bedarf es auch beim Übertritt von der Junioren-Stufe in die Elite-Kategorie, denn hier haben wir die meisten Abgänge. Für den einzelnen talentierten Nachwuchssportler muss ein besseres Umfeld in Sachen Ausbildung respektive Beruf geschaffen werden. Dies kostet Geld und ist zeitintensiv. Einwirken können wir als Swiss Olympic auch bei der Unterstützung der Verbände in Bezug auf die Leistungssportchefs. Manche Verbände sind abhängig von ein, zwei guten Leuten. Sind diese überlastet oder beenden diese ihre Tätigkeit, dann gibt es ein Loch. Hier kann Swiss Olympic unterstützend wirken, Erfahrungen einbringen. Wie ich bereits vor meiner Wahl gesagt habe: Wir müssen nicht das Podest finanzieren, sondern den Weg dorthin unterstützen.

Was ist neben offensichtlichen Dingen wie der parlamentarischen Abstimmung oder der Olympia-Kandidatur in dieser kurzen Zeitspanne passiert, was es vielleicht nicht an die Öffentlichkeit geschafft hat und für Sie doch von Belang war?

Ich habe versucht, Grundvoraussetzungen fürs gute Funktionieren bei Swiss Olympic zu schaffen. Im neuen Exekutivrat sind 50 Prozent der Mitglieder neu gewählt. Das führte zu einer Verjüngung und zu einer Dynamisierung. Dazu gab es eine zweitägige Strategie-Sitzung zum Kennenlernen des Teams am Anfang einer vierjährigen Legislatur. Wenn der Turm schief stehen würde und man weiter Gewicht drauflädt, verschiebt sich das Fundament.

Sie sprechen die Dynamisierung an. Was ist darunter zu verstehen?

In einer Führungsposition merkt man relativ schnell, ob man Gedanken in der selektiven Beurteilung alleine hat oder ob sie geteilt werden. Ich nenne zwei Beispiele: Mit Pascal Jenny (ehemaliger Handball-Internationaler, Tourismus-Direktor von Arosa) kam neue Kompetenz dazu, auch im Eventbereich. Oder Dani Bareiss mit einer enormen Vernetzung, gerade im IT-Bereich. Er verkörpert mit Swiss Unihockey eine Erfolgsgeschichte in den letzten vier Jahrzehnten. Dieses Zusammenkommen führte dazu, dass die Dynamisierung, auch aufgrund der Dienstaltersbeschränkung (drei Mitglieder des Exekutivrats schieden altershalber aus, zwei wollten nicht mehr) entstand. Am meisten hat mich beeindruckt, dass Leute dabei sind, die sich sonst schon genug engagieren.

«Nun liegt es an uns und auch am IOC zu beweisen, dass wir bereit sind, neue, andere, vernünftigere Spiele zu organisieren.» 

Themawechsel. Erinnern Sie sich noch an Ihren Gemütszustand am 19. Juni 1999, dem Tag der Olympia-Vergabe für 2006?

Ja, daran erinnere ich mich noch genau. Ich bestritt an diesem Tag meinen letzten Zehnkampf als Titelverteidiger des kantonalen Turnfestes. Damals lebte ich in einer WG, wir schauten zu viert TV. Dann öffnete Juan Antonio Samaranch das Couvert und las das Wort «Torino». Damals ass ich aus Frust fünf oder sechs Jahre keinen Schokoladenstengel dieser Marke mehr, auch wenn es die Falschen traf (lacht). Ich stelle fest, dass der Schmerz im Wallis und in der Schweiz noch immer präsent ist. Eigentlich ist es unschweizerisch, so lange an einer Niederlage zu kauen. Nun liegt es an uns und auch am IOC zu beweisen, dass wir bereit sind, neue, andere, vernünftigere Spiele zu organisieren. Das benötigt einen langen Prozess und viel Aufklärungsarbeit. Mit der Agenda 2020 habe ich verlässliche Indizien und Faktoren, die dafür sprechen, dass das IOC atmosphärisch näher an den Kandidaturen ist. Es sieht, dass es nicht möglich ist, im gleichen Stil weiterzufahren.

Heisst das im Rückschluss, dass Lillehammer 1994 vor dem Beginn des Gigantismus die bislang besten Olympischen Spiele ausgerichtet hat?

Selber vor Ort war ich nicht. Aber ich war letztes Jahr mit Bundesrat Guy Parmelin an den Youth Olympic Games, wo ich den Geist von Lillehammer 22 Jahre später erleben durfte. Das können wir von dieser Kandidatur lernen: Die bestehenden Anlagen sind mit relativ wenig Aufwand erneuert worden. Viele sagen, es waren die besten Spiele aller Zeiten. In der Sportfamilie wird darüber überdurchschnittlich viel gesprochen. Ich masse mir aber nicht an, darüber zu urteilen.

Es gibt Studien, die aussagen, dass auch die Spiele von Lillehammer der Region keinen nachhaltigen Nutzen gebracht haben.

Ich weiss nicht, ob wir immer alles quantitativ beziffern müssen. Wenn das Organisieren von Olympischen Spielen so einfach wäre, würden es 200 Nationen machen. Vom Prozess, den wir als Schweizer Sportfamilie durchlaufen, sollen alle profitieren können. Wir werden nicht alles neu erfinden müssen. Und wir dürfen nicht alles hinterfragen. Es gibt auch den non-monetären Wert. Die staatlich unterstützte Sportnation Norwegen hat zumindest in den Wintersportarten ein Selbstverständnis erlangt. Ähnliches gilt für Grossbritannien, das nach Sydney 2000 am Boden war. Das kann man nicht in Franken, Euro oder Pfund werten. Wenn etwas gut ist, darf man auch etwas investieren.

«In der Westschweiz ist das Herzblut in einer grossen Portion vorhanden.»

Wie überzeugt man denn Kantone wie Schaffhausen, Appenzell Innerrhoden oder Glarus, die von der Olympia-Kandidatur «Die Spiele im Herzen der Schweiz» weit entfernt sind, emotional mitzuwirken?

Die Schweiz basiert immer wieder auf der Kohäsion. Das kennen wir aus anderen Diskussionen wie Frühfranzösisch, Bildungsfragen oder bezüglich Verkehrsinfrastruktur. Die moderne Schweiz ist so ausgeprägt, dass sie als Willensnation die unterschiedlichen Eigenheiten der verschiedenen Regionen zu bündeln weiss. Wir haben den Lötschberg oder den Gotthard gebaut. Dazu konnte man auch sagen, dass das für einen Jurassier oder Lausanner nicht die gleiche Bedeutung hat wie für die Direktbetroffenen. Bei der Einweihung des Gotthard-Basistunnels waren wir auch alle stolz darauf, was wir im Herzen Europas geschafft haben. Dass wir die Spiele nicht in allen Regionen durchführen könnten, sondern in jener, die sich klar dazu bekannt hat, ist logisch. In der Westschweiz ist das Herzblut in einer grossen Portion vorhanden. Aber es ist noch ein weiter Weg, der Überzeugungsarbeit braucht. Es geht um eine Kumulierung kritischer Punkte wie Finanzen, Sicherheit, Umweltpolitik oder Dichtestress.

Wie sehr verfolgen Sie, was andere mögliche Kandidaturen wie Innsbruck oder Stockholm beinhalten?

Wir schauen relativ genau hin. Uns ist bewusst, dass wir, um es im Tennis-Genre auszudrücken, zwei Courts gleichzeitig bespielen: den nationalen Teil mit den kritischen Gegenstimmen, allfälligen Volksabstimmungen etc. und den internationalen Teil. Für diesen sind Details ausschlaggebend. Man versucht, angebliche Schwächen der anderen mit eigenen Stärken auszunützen. Kritisieren oder öffentlich bewerten werden wir andere Kandidaturen aber nicht.

Aber wir sind uns einig, dass die anderen Kandidaturen jener der Schweiz ziemlich ähnlich sind.

Wir bieten seit Jahrzehnten politisch grösstmögliche Stabilität, und vor allem haben wir die mit Abstand vielseitigste und höchste Dichte an Weltcup-Wettkämpfen und wiederkehrenden Grossveranstaltungen im Sportbereich. Wenn man dieses Know-how genauer betrachtet, stellt man fest, dass wir unser Licht manchmal zu stark unter den Scheffel stellen.

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