Normalerweise verdränge ich alle schlimmen Dinge, die meiner Tochter passieren könnten. Doch am Samstag findet in Basel eine Demonstration gegen sexuelle Gewalt an Frauen statt, deshalb konfrontiere ich mich für einmal mit den Fakten. Was für ein Horror.
Okay, dieser Text braucht jetzt Überwindung. Meine Tochter ist zwei Jahre alt. Seit sie auf der Welt ist, kann ich keine Artikel über sexuellen Missbrauch lesen.
Bei solchen Szenen denke ich unweigerlich an meine Tochter und kriege Angst. Und das zu Recht:
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Tochter und Ihr Ehemann oder Bruder oder Vater oder ein guter Freund vergewaltigt sie. So passiert in St. Gallen.
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Tochter und die kommt ins Teeniealter und fängt an, in den Ausgang zu gehen. Stellen Sie sich vor, wildfremde Typen greifen ihr an den Po, zwischen die Beine und an die Brüste. So passiert in Zürich.
Stellen Sie sich vor, Ihre Tochter trifft einen neuen Bekannten aus dem Internet und wird brutal von ihm vergewaltigt. So passiert in Rapperswil.
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Tochter und die fährt abends mit dem Velo nach Hause und wird von einem Fremden vom Fahrrad gerissen und vergewaltigt. So passiert in Emmen (LU).
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Tochter und die wird von einem Freund aus ihrer Clique betatscht oder gar vergewaltigt. So passiert in St. Gallen.
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Tochter und die zieht irgendwann mit ihrem Freund oder Ehemann zusammen und der schubst sie herum, nennt sie Schlampe, verprügelt sie und zwingt sie zum Sex, wenn sie keine Lust hat. So passiert im Baselbiet.
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Tochter, und die wird von ihrem Partner in der eigenen Wohnung erschossen. So passiert in Nendaz (VS).
Einzelfälle? Leider nein.
Die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie zählte im Jahr 2015 fast 1400 Kinder, die misshandelt wurden und deswegen ins Spital kamen.
Schweizer Forscher haben 6700 Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren befragt. Resultat: Jedes fünfte Mädchen und fast jeder zehnte Knabe wurde schon einmal sexuell missbraucht.
Die Schweizer Kriminalstatistik zählte im Jahr 6756 Widerhandlungen gegen die sexuelle Integrität und 532 polizeilich registrierte Vergewaltigungen. Aber: Die Dunkelziffer ist riesig.
In Tat und Wahrheit erlebt jede vierte Frau in Europa Gewalt, wie eine Studie der Weltgesundheitsorganisationen zeigt. Und die meisten Vergewaltiger und Prügler sind keine fremden Männer hinter dem Busch, sondern Freunde, Partner, Väter, Brüder. Bei jedem zweiten Tötungsdelikt kennen sich Täter und Opfer, 34 Prozent finden in der eigenen Familie statt, wie die Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen. Und das sind nur die Tötungsdelikte.
Erzieht Eure Kinder
Wenn sexuelle Gewalt an Frauen so verbreitet ist, ist es vielleicht keine so gute Idee, seine Ängste zu sehr zu verdrängen. Natürlich blockiert zu viel Angst, gescheiter wäre es, seiner Tochter beizubringen, «nein» zu sagen und sich zu wehren.
Und darauf zu hoffen, dass andere Eltern dasselbe tun – auch bei ihren Söhnen. Auch die werden verprügelt und missbraucht, öfter aber sind sie es selber, die prügeln und vergewaltigen. Auch sie müssen lernen, dass das nicht geht. Wenn nicht zu Hause, dann in der Schule.
Wir wollen nicht ständig Angst um unsere Kinder haben. Und um uns selbst auch nicht, wenn wir schon beim Thema sind.
_
3. Dezember, 14 Uhr, Petersplatz: Demo gegen sexualisierte Gewalt an Frauen.