Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit

Review zu „Delete. Die Tugend des Vergessens im digitalen Zeitalter“ von Viktor Mayer-Schönberger (2010)  // Das digitale Zeitalter ist eines der perfekten Erinnerung. Die Diskussion über Datenspeicherung hat uns längst erreicht, über Beispiele wie den Missbrauch von Kundendaten oder preisgegebene Informationen im Web 2.0 wurde oft geschrieben. Es kommt also nicht von Ungefähr, dass ein Wikipedia-Eintrag […]

Review zu „Delete. Die Tugend des Vergessens im digitalen Zeitalter“ von Viktor Mayer-Schönberger (2010)  //

Das digitale Zeitalter ist eines der perfekten Erinnerung. Die Diskussion über Datenspeicherung hat uns längst erreicht, über Beispiele wie den Missbrauch von Kundendaten oder preisgegebene Informationen im Web 2.0 wurde oft geschrieben. Es kommt also nicht von Ungefähr, dass ein Wikipedia-Eintrag „Recht auf Vergessenwerden“ existiert, die EU im Januar ein Recht auf Vergessen im Netz forderte und es paradoxerweise gar ein „engineering team“ von Google gibt, das sich zum Ziel gesetzt hat, dem Benutzer die eigene Datenverwaltung zu vereinfachen. „Users should be able to control the data they store in any of Google’s products“.  Viktor Mayer-Schönberger beschäftigt sich im heute vorgestellten Buch „Delete. Die Tugend des Vergessens im digitalen Zeitalter“ mit Fragen nach den Folgen dieser perfekten digitalen Erinnerung. Gilt nur noch als wahr, was in Form digitaler Daten vorliegt? 

cover

cover (Bild: bup)

Worum es in dem Buch geht? Um die Bedeutung von Vergessen und Erinnern in unserer Gesellschaft und darum, wie sich beides ändert, wenn digitale Speicher keine Grenzen mehr kennen. Mayer-Schöneberger liefert ein Plädoyer fürs Vergessen und fragt, was es bedeutet, wenn wir nicht mehr vergessen können. Seine Forderung: ein Verfallsdatum für Informationen online.

Einige Schlagwörter? Neben Vergessen und Erinnern: Zeit, Macht und „informationelle Unsterblichkeit“. Und natürlich Datenschutz und Vertraulichkeit.

Wie lautet eine zentrale These des Buches? Entgegen gängiger Annahme ist Vergessen kein Makel, sondern ein lebensrettender Vorteil. Indem wir vergessen, gewinnen wir die Freiheit zu generalisieren, verallgemeinernd zu denken und vor allem zu handeln bzw. Entscheidungen zu treffen. Wenn das digitale Gedächtnis die Diskrepanz zwischen persönlicher Erinnerung und Fakten immer mehr aufdeckt, verlieren wir das Vertrauen in unsere Erinnerungsfähigkeit und gehen schliesslich von einer alles dominierenden Vergangenheit in eine völlig geschichtsvergessene Gegenwart über. Das digitale Gedächtnis lässt uns die Wahl zwischen zwei Optionen: einer permanenten Vergangenheit oder einer ignoranten Gegenwart.

Warum ich das Buch empfehle? Weil es daran erinnert, wie wichtig Vergessen ist – für einzelne Individuen, aber auch die gesamte Gesellschaft. Denn das Ende des Vergessens birgt mindestens zwei Gefahren: 1. Verlust der informationellen Selbstbestimmung, wenn Informationsverarbeiter wie Google der Welt Zugang zu X-Milliarden Daten und Informationspartikel verschaffen. 2.  Verlust der Entscheidungsfreiheit einer Gesellschaft, wenn das Vergangene omnipräsent ist.  

Was gegen das Buch spricht? Es handelt von etwas, was der Mensch schon seit Jahrtausenden weiss: gute Information ist wertvoller als viel Information. Andererseits: Sind wir uns dessen heute noch bewusst?

An welche andere Texte mich dieses Buch erinnert? Mayer-Schönberger verweist selbst auf einige, für ihn wichtige Texte. Neben Borges’ Kurzgeschichte „Das unerbittliche Gedächtnis“ u.a. auch Foucault: „Wenn Foucault heute noch lebte, würde er zweifellos über das digitale Erinnern als effektives Mittel zur [räumlichen und zeitlichen] panoptischen Kontrolle schreiben.“  Das Panopticon des englischen Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832) ist der architektonische Vorschlag
eines perfekten Gefängnisses: In der Mitte steht ein Turm, aus dem heraus Wächter die rundherum angeordneten, Gefängniszellen einsehen können. Damit stehen die Gefangenen potenziell permanent unter Beobachtung, was zu einem Verhalten führt, das den Blick der Überwacher einbezieht.  

Und einer meiner Lieblingssätze: „Durch die globale Reichweite der Massenmedien hat sich unser gemeinschaftliches Gedächtnis längst internationalisiert […] und die Digitalisierung hat den gemeinsamen Erinnerungsschatz grösser und globaler gemacht, als er in analogen Zeiten je hätte werden können.“ 

Nach dem Lesen diese Buches, das wichtige Denkanstösse gibt, stellen sich auch Fragen. Zum Beispiel: Können wir als “Generation-Facebook” uns auf die Empfehlung der “Generation Internet-Ausdrucker” – und das ist nicht böse gemeint – verlassen? Woher sollen wir jetzt schon wissen, welche Daten in einigen Jahren relevant sein werden und welche nicht?

Andere fragen stellt Barbara Bleisch dem Autor in Sternstunde Philosophie vom 22.5.2011 direkt: http://www.videoportal.sf.tv/video?id=f92c524e-82d7-47f7-b6df-910a37228be5
„In einer Welt, in der wir alles erinnern, ist die Erinnerung nichts mehr wert“
(Viktor Mayer-Schönberger ca. bei 51.10′)

 

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