Wir alle werden verlieren

2014 wird darüber entscheiden, ob die Schweiz hinter der Idee von Europa steht. Eine schwache EU nützt denjenigen, die sich um Umwelt und Soziales foutieren. Es lohnt sich, zum Thema auch andere Stimmen zu hören – wie etwa den Schriftsteller Robert Menasse. Im Jahr 2014 entscheidet sich, ob die Schweiz Europa und die Idee, die […]

Stärkt die Schweiz die EU, oder schwächt sie die Idee eines vereinten Europas? Darum geht es 2014, sagt Matthias Bertschinger.

2014 wird darüber entscheiden, ob die Schweiz hinter der Idee von Europa steht. Eine schwache EU nützt denjenigen, die sich um Umwelt und Soziales foutieren. Es lohnt sich, zum Thema auch andere Stimmen zu hören – wie etwa den Schriftsteller Robert Menasse.

Im Jahr 2014 entscheidet sich, ob die Schweiz Europa und die Idee, die hinter einem vereinten Europa steht, stärkt oder schwächt. Kroatien-Referendum, Masseneinwanderungs- und Ecopop-Initiative versprechen Abhilfe gegen ausländische Konkurrenz, Lohndumping, Wohnungsnot, Siedlungsdruck. Wie den Medien entnommen werden kann, sind weitere, teils grüne Initiativen in Vorbereitung, die sich gegen den Freihandel richten.

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Es machen also nicht nur rechtskonservative Kreise gegen mehr Europa mobil: Tierschützer befürworten einen Importstopp von Billigfleisch, anstatt sich international zu vernetzen, und auf europäischer Ebene für schärfere Tierschutzbestimmungen zu kämpfen. Globalisierung, nicht aber zu billige Energie wird für den Niedergang der einheimischen, verbrauchernahen Produktion verantwortlich gemacht. Schliesslich spielen Linke die flankierenden Massnahmen gegen das Prinzip der Personenfreizügigkeit aus. Die Zahl derer, die in der EU nur ein Instrument des Neoliberalismus sehen, wächst. In Vergessenheit gerät, dass sich die Idee hinter Europa gerade gegen eine schrankenlose Konkurrenz zwischen Nationalstaaten wendet.

Verliererin des gegenwärtigen Gärtli-Denkens ist einerseits die Wirtschaft. Dabei haben sich die Bürgerlichen selbst in die verfahrene Situation hineinmanövriert, in welcher sie sich befinden. Wer sich mit dem lapidaren Hinweis auf den freien Wettbewerb weigert, über wirtschaftliche Rahmenbedingungen wie (weltweite) Verteilungsgerechtigkeit, Steuerharmonisierung, Sozial- und Umweltstandards überhaupt zu reden, öffnet irrationalen Angstbewältigungsstrategien Tür und Tor. Daniel Binswanger vom «Magazin» bemerkt zu Recht: «Die Strategie der Mitteparteien ist hochriskant. Wer sozialpolitisch keine Konzessionen machen will, dem können gegen den auftrumpfenden Nationalismus ganz plötzlich die Argumente fehlen.» Die aufgewärmte Apfelbäumchen-Kampagne «bewährte Bilaterale» von Economiesuisse führt diesen Argumentationsnotstand vor Augen.

Gemeinsame Steuerstandards verhindern, dass ein Konzern erpresserisch mit Wegzug in ein anderes Land drohen kann.

Andererseits macht uns die grassierende Angst vor Öffnung alle zu Verlierern: Manche Progressive vergessen, dass Angriffe gegen einen offenen, europäischen Markt zugleich Angriffe gegen dessen steuer-, sozial- und umweltpolitische Rahmenbedingungen sind. Diese immunisieren sich aber gerade dadurch gegen Umwelt- und Sozialdumping, dass es gemeinsame Rahmenbedingungen sind. Ein Konzern, der sich an gemeinsame Steuerstandards halten muss, kann nicht mehr erpresserisch mit Wegzug in ein anderes Land drohen, um seine gerechte Besteuerung zu verhindern. Durch ihr Abseitsstehen behindert die Schweiz die Weiterentwicklung solcher gemeinsamer Rahmenbedingungen.

Nutzniesser einer Politik, die keine gerechten Rahmenbedingungen zu schaffen vermag, sind einige Wenige (Rechtskonservative sprechen nicht von Rahmenbedingungen, sondern von Brüsseler «Regulierungswut»). Sie polemisieren nicht von ungefähr gegen alles Europäische und Fremde: Ihre Macht wird durch mehr Miteinander begrenzt. Auf lange Frist verlieren aber auch sie. Selbst wenn es noch Jahrzehnte dauern sollte, bis zu Bewusstsein kommt, in welche Sackgasse eine nationalistische Politik führt – Fakt bleibt: In einer globalisierten Welt lassen sich viele Probleme umwelt- und sozialpolitischer Art nur noch gemeinsam mit anderen Staaten lösen, also auf supranationaler Ebene und unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Viele Probleme – man denke zum Beispiel an die Umweltzerstörung – machen vor keiner Grenze Halt.

Viele Probleme – man denke zum Beispiel an die Umweltzerstörung – machen vor keiner Grenze Halt.

Zudem sind die gegenwärtigen Herausforderungen weit weniger technisch-naturwissenschaftlicher als philosophischer Natur. Verheerend für eine intakte Zukunft unserer Kinder erweist sich eine Verwechslung von Ursache und Wirkung im Denken: Das kleinkarierte Gerede von der Unfähigkeit, Probleme auf internationaler Ebene zu lösen, erzeugt diese Unfähigkeit erst. «Self-fulfilling prophecy» lautet der Fachausdruck hierfür.

«Fremde Richter», «Souveränitätsverlust», «Bürokratiemonster» – Schlechtmacherei bestimmt den europapolitischen Diskurs. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse beklagt einen solchen Missbrauch der Sprache zur Diskreditierung internationaler Zusammenarbeit: «Was auf nationaler Ebene einfach ‹Gesetzgebung› heisst, wird im europäischen Einigungsprozess pejorativ zum ‹Regulierungswahn›.» Es lohnt sich, ihm zuzuhören.

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