Die St. Galler Wirtschaftsprofessorin Monika Bütler warnt vor einer «tickenden Anstandsbombe» im Schweizer Sozialsystem. Dieses funktioniere vor allem deshalb, weil zahlreiche Bürger aus Anstand auf staatliche Leistungen verzichteten.
Doch Bütler sieht Anzeichen dafür, dass der Anstand bröckelt. «Die Schweiz profitiert vor allem vom Anstand ihrer Bürger», schreibt Monika Bütler in einem Gastbeitrag in der «Schweiz am Sonntag».
Viele Bürgerinnen und Bürger, die auf dem Papier Anspruch auf staatliche Leistungen hätten, beanspruchten sie nicht – je nach Art der Unterstützung verzichteten bis die Hälfte der Anspruchsberechtigten.
Für die Wirtschaftsprofessorin an der Universität St. Gallen ist der Grund klar: «Die meisten freiwilligen Nichtbezüger sind nicht einfach unwissend, sondern anständig. Sie hätten zwar Anrecht auf Hilfe, brauchen sie aber nicht.»
Studium, Krippe und Wohnung finanziert
Das grosszügige Schweizer Sozialsystem sei nur dann noch eine Weile finanzierbar, wenn die Hemmungen bestehen bleiben, folgert Bütler. Sie stellt fest: «Während die demografische Bombe heute in aller Munde ist, spricht kaum jemand von der tickenden Anstandsbombe.»
Die Professorin sieht Indizien dafür, dass der Anstand bröckelt: «Die Hemmung, Sozialleistungen zu beanspruchen, sinkt anscheinend auch in der Schweiz.» Als Beispiel nennt sie Menschen, die von Krippensubventionen und vergünstigten Wohnungen profitieren, obwohl ihnen der Staat zuvor das Studium finanziert habe.
Das Gleichgewicht aus Anstand der Leistungsbezüger und Moral der Steuerzahler, das die Schweiz lange ausgezeichnet habe, sei labil. «Sinkt der Anstand, leidet die Steuermoral», befürchtet Bütler, «und der Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar».