Das kleine Städtchen Chiavenna nördlich des Comersees wird von Touristen gerne übersehen, ist aber einen Besuch wert. Warum, erfahren sie hier.
Es gibt viele Wege aus der Schweiz, die ins grenznahe Chiavenna führen. Aber keiner endet so abrupt wie jener via Mailand: In Milano Centrale sucht man den Zug nach Sondrio. Die Wagen sind nicht die modernsten – warum auch, kein Tourist kommt auf die Idee, in diese Komposition zu steigen. Die Fahrt durch die industrialisierte Po-Ebene bis Lecco ist öde, doch dann tut sich der Comersee auf, der Zug schlängelt sich durch Tunnels, über Viadukte, an Dörfern, Sommerresidenzen, herrschaftlichen Villen vorbei – es ist Zeit, wieder mal in Manzonis «Promessi Sposi» zu lesen, dem Roman, der in dieser Gegend spielt. Am Ende des Sees, nach anderthalb Stunden, steigt man im gottverlassenen Colico um. Nach 45 Minuten dann kommt dieser abrupte Halt. Fertig, Schluss, die Schiene endet vor dem Berg: Chiavenna.
Muntere Trägheit in den Gassen
Am späten Freitagnachmittag lümmeln auf der Piazza im Zentrum die Leute herum: Die Lehrer und Lehrerinnen aus den Schulen halten den Feierabendschwatz, Schüler foppen sich, heimkehrende Grenzgänger aus der nahen Schweiz machen einen Apero-Stopp, Frauen tragen Einkaufstüten, Rentner gleiten auf Velos vorbei, so langsam, dass sie jederzeit auf die Seite zu kippen drohen, Hunde kläffen einander an, Touristen, die für einen kurzen Abstecher aus dem kühlen und teuren Engadin ins frühlingshafte Städtchen geflohen sind, blinzeln in die Sonne und freuen sich übers Schnäppchen, das sie in einer der Boutiquen ergattert haben.
Eine muntere Trägheit in diesen kopfsteingepflasterten Gassen – man möchte nie mehr weg, nie mehr arbeiten.
Man muss auch nicht weg. Zwei, drei Hotels, mit zwei Sternen oder mit drei, bieten Unterkunft. Am Samstagmorgen ist Markt hinter dem Bahnhof. Woher wohl all die Marktfahrer kommen? Kleider, Haushaltsgeräte, Gemüse, Werkzeuge, Leckerbissen aus der Region, Schuhe – alles durcheinander. Auf drei Seiten der Stadt erheben sich steil die bis weit hinauf bewaldeten Berghänge, Kirchtürme ragen da und dort aus den Bäumen, lassen Bergdörfer erahnen. Von dort herunter sind wohl viele Marktbesucher gekommen, um sich mit Sachen und Sächelchen einzudecken.
Mitbringsel für die Daheimgebliebenen
Die grossen Sehenswürdigkeiten, von denen der Romfahrer erzählen kann, fehlen. Aber wo sonst findet man eine solche Ruhe wie im St.-Lorenz-Klostergarten? Oder eine Restaurant-Terrasse nur für Schwindelfreie? Hoch über dem Fluss Mera bewirten junge Männer, die die Vinothek Micheroli in der Via Pedetti betreiben, die Gäste – der Blick hinunter in die ausgewaschenen Felsen des Flussbettes ist einzigartig. Und wer an ein Mitbringsel für die Daheimgebliebenen denkt, darf einen Gang ins «Punto & Pasta» nicht verpassen. Hier, auf kleinstem Raum, produziert und verkauft ein Paar Teigwaren vom Köstlichsten – delikater als in jedem Gourmet-Geschäft und viel, viel günstiger.
Am Sonntagmorgen ist das Städtchen anmutig still. Nur Kirchenglocken. Die Schritte einzelner Passanten hallen über die Piazza, vor der Cafeteria nur wenig Gäste. Der Bahnhof leer, der Zug nach Mailand ist bereits weg. Doch vor dem Bahnhof steht ein Postauto – es fährt durchs Bergell über den Malojapass nach St. Moritz. Und dort steht wieder ein Zug bereit. Es wird eine lange Heimfahrt aus einem herausgeputzten Städtchen, das nur wenige Kilometer südlich der Schweizer Grenze liegt.
- Anzapfen: Bar, Grapperia «Micheroli», Via Pedretti 24.
- Anschauen: «Park Paradiso», wo sich Schweizer Söldner vor dem Gang nach Marignano vollsoffen.
- Anhören: Beim Bahnhof erklärt die freundliche Frau vom Tourismusbüro alles über Chiavenna.
- Ausspannen in der Bar über dem Fluss Mera oder auf der Piazza am Sonntagmorgen.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30.03.12