Wochengedicht #1: Klaus Merz

In dieser Rubrik stellt Rudolf Bussmann jede Woche Lyrik vor. Zum Auftakt präsentiert er ein Gedicht des Aargauer Schriftstellers Klaus Merz. Klaus Merz: «Der Erlkönig» Für uns ist Gott Luft. Wir atmen ihn ein.   Klaus Merz ist, ob er Prosa oder Gedichte schreibt, bekannt für seine sparsame und präzise Setzung der Worte. Er bringt […]

In dieser Rubrik stellt Rudolf Bussmann jede Woche Lyrik vor. Zum Auftakt präsentiert er ein Gedicht des Aargauer Schriftstellers Klaus Merz.

Klaus Merz: «Der Erlkönig»

Für uns ist
Gott Luft. Wir
atmen ihn ein.

 

Klaus Merz ist, ob er Prosa oder Gedichte schreibt, bekannt für seine sparsame und präzise Setzung der Worte. Er bringt es fertig, in neun Worten gut verständlich über Gott zu sprechen. Verständlich – aber nicht unbedingt eindeutig. Es brauchen nicht alle aus seinem Gedicht dasselbe zu lesen.

Dieses besteht aus zwei kurzen Sätzen, die unverbunden hintereinander stehen. Der erste könnte die Aussage eines Atheisten sein, der die Frage nach Gott achselzuckend abtut: Gott ist für mich Luft. Allerdings sagt Klaus Merz nicht «für mich», sondern «für uns». Es handelt sich nicht um ein Bekenntnis, sondern um eine provokative These.

Zwischentitel

Die These ist vertrackter, als sie aussieht. Sie lautet nicht, Gott gebe es nicht, sondern Gott sei Luft. Sobald wir den Satz nicht als bildliche Redensart, sondern als sachliche Aussage verstehen, meint Luft etwas real Existierendes. Der Satz verkehrt sich in sein Gegenteil: Gott ist Luft, es gibt ihn.

So gelesen, steht das Gedicht mit seiner Aussage in einer alten Tradition. In den Mythen vieler Völker hat die Luft göttlichen Charakter. Die Seele steigt in der Vorstellung der alten Griechen nach dem Tod zu Aither auf, während der Körper in die Erde Gaia hinabsinkt. In der akkadischen, sumerischen babylonischen und assyrischen Religion ist Enlil der Hauptgott. Sein Name bedeutet wörtlich übersetzt «Herr Wind». Und für die Bibel wird der Mensch in genau dem Augenblick zum beseelten Wesen, wo der göttliche Hauch seine Lungen füllt: «Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Atem des Lebens» (Gen. 2, 7). Seither atmen wir Gott ein.

Zwischentitel

Der zweite Satz des Gedichts scheint die logische Fortsetzung anzudeuten: Gott ist Luft, also kommt er mit jedem Atemzug in uns. Er kann indessen auch antithetisch gemeint sein und mit dem ersten in einen Dialog treten. «Gott ist für uns Luft, er existiert nicht.» – „Aber wir atmen ihn doch ein?“
Der Dreizeiler legt sich nicht fest. Das heisst nicht, dass er unverbindlich bleibt. Zwei Sätze begegnen sich und reiben sich aneinander. Klaus Merz setzt einen Reflexionsprozess in Gang, indem er mit den Möglichkeiten der Sprache spielt. Mit den Möglichkeiten der deutschen Sprache, müssen wir zufügen. Sein Gedicht wäre ohne Verluste ins Niederländische übertragbar, für all jene Sprachen aber, die den Ausdruck „für jemanden Luft sein“ nicht kennen, wird es keine adäquate Übersetzung geben.

  • Das Gedicht entstammt dem jüngsten Lyrikband von Klaus Merz, Aus dem Staub, erschienen 2010 im Haymon Verlag. Der Aargauer wurde im Januar 2012 mit dem Basler Lyrikpreis geehrt. Am 3. Juni wird er einen weiteren renommierten Preis entgegennehmen können: den Hölderlinpreis der Stadt Bad Homburg.

 

Si gelesen, steht das Gedicht mit seiner Aussage in einer alten Tradition. In den Mythen vieler Völker hat die Luft göttlichen Charakter. Die Seele steigt in der Vorstellung der alten Griechen nach dem Tod zu Aither auf, während der Körper in die Erde Gaia hinabsinkt. In der akkadischen, sumerischen babylonischen und assyrischen Religion ist Enlil der Hauptgott.

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