Unser Wochengedicht stammt diesmal vom Schweizer Autor Andreas Saurer. In seinem Gedicht «Passugger» reichert er ein abendliches Stillleben mit prickelnden Vorstellungen an.
Passugger
deine augen leuchtend
neben dem bett
steht das wasser
jeden abend
bis zum hals
kennen und küssen
wir uns
jeden abend
spielen wir
zebra
streifen durch
deinen kopf
jeden abend
ist die welt eine scheibe
sie endet im meer.
Eine Bettszene? Leuchtende Augen, Küsse, ein Ausfliessen in die Unendlichkeit des Meeres. Und das jeden Abend. Zwei Verliebte, die sich «bis zum Hals kennen» und miteinander Tier spielen? Man muss schon sehr verliebt sein um zu übersehen, dass das Gedicht von etwas ganz anderem spricht. Schon der Markenname im Titel kündet nicht unbedingt eine romantische Verführung an.
Eine Bettszene ja, aber ohne Geliebte. Dafür mit Mineralwasser. Es sind dessen Bläschen, die wie Augen leuchten, es ist der Hals der Flasche, den die Lippen berühren. Licht und Schatten wechseln in der bewegten Flüssigkeit ab. Bis die Lampe ausgeknipst wird und Dunkelheit im Zimmer herrscht. Der Schluss nimmt das Thema Wasser auf und führt mit dem Bild vom Meer aus dem Gedicht hinaus in ein Reich, wo Grenzenlosigkeit und Zeitlosigkeit herrschen, den Schlaf.
Und das Mineralwasser hätte die Liebesszene aus dem Gedicht vollständig verdrängt? Nicht ganz. Etwas von der Sinnlichkeit, die wir ursprünglich in diesem vorzufinden glaubten, schwingt in den einschlägigen Worten, auch in der vertraulichen Du-Anrede, nach wie vor mit und reichert das abendliche Stillleben, welches das Gedicht beschreibt, mit prickelnden Vorstellungen an.
(Bild: zVg)
Der Journalist und Lyriker Andreas Saurer (1963 in Andeer geboren) ist Auslandredaktor der Berner Zeitung. Eine erste Auswahl seiner Gedichte erschien 2005 zweisprachig im rumänischen Verlag Biblioteca Revistei (Oradea) unter dem Titel «Berg mit Madonna. Munte cu Madonna». 2008 folgte im orte-Verlag die Sammlung «Freie Sicht bis Cagliatscha», der das Gedicht entnommen ist.