Unser Wochengedicht stammt diesmal vom Zuger Autor Max Huwyler. Sein Gedicht «vor sonnenaufgang» hält die Ambivalenz des Erlebens fest. Und lässt zwei Sichtweisen zu.
vor sonnenaufgang
Allerseelen 2001
allerseelen
vor tag
aus dem tropf
tropft
es gegen den letzten schmerz
zimmer 462
der atem kämpft
hörbar
jenseits am wasser
flimmert licht
der see gibt keine spiegelstriche
her
schwarz
wie wenn nichts wäre
wo see ist
im zimmer die zeitung
von gestern
sunrise
für jeden das passende abo
Da liegt jemand im Krankenhaus, er oder sie hängt am Tropf. Man kennt den Grund des Leidens nicht, noch weiss man, wie ernsthaft die Lage ist – aber im Gedicht sind einige Hinweise versteckt, die das Schlimmste befürchten lassen. Das Wort «allerseelen» nimmt Bezug auf den Tag nach Allerheiligen, an dem laut katholischem Kalender der Verstorbenen gedacht wird. Dass es um Leben und Tod geht, zeigt auch die Wendung, die Medikamente seien eingesetzt «gegen den letzten schmerz». Der Satz «der atem kämpft / hörbar» lässt an einen Todeskampf denken – die kurzen, abgerissenen Zeilen klingen wie das Röcheln eines Menschen, dem das Atmen schwer wird. Man kommt nicht umhin den darauf folgenden Hinweis «jenseits am wasser / flimmert licht» als Anspielung auf den Acheron zu verstehen, den Fluss, über den in der griechischen Mythologie die Seelen in den Hades gerudert werden.
Lesart eins: am Bett
Mit dem Wort «licht» ist die Mitte des Gedichts erreicht, von der aus eine Gegenbewegung einsetzt, eine Bewegung, die von den Todesahnungen erst einmal wegführt. Der Besucher, der ans Bett getreten und über den Zustand des (der) Kranken erschrocken ist, löst sich aus seinen finsteren Assoziationen. Er nennt das Wasser nun «see»: Mag die vor dem Fenster liegende Fläche auch schwarz und leer sein, so verliert sie, als See erkannt, die mythologische Dramatik des Totenflusses. Sein Blick fällt anschliessend auf die Zeitung. Die Reklame des Internetanbieters sunrise ist angesichts eines kranken Menschen, dessen Zukunft ungewiss ist, von bitterem Sarkasmus. Das Stück Werbung reisst den Besucher aus seinen finsteren Gedanken, um ihn nur umso schonungsloser der Realität des Krankenzimmers auszusetzen, in dem das, was an draussen erinnert, seinen Sinn verloren hat.
Lesart zwei: im Bett
Ist es wirklich ein Besucher, dem wir das Gedicht verdanken? Die Datierung, die dem Titel beigefügt ist, kann auch der Auftakt eines in Zeilen gesetzten Tagebucheintrags sein: Der Schreibende hält seine nächtlichen Todesahnungen fest, aus denen ihn sein erwachendes Bewusstsein wieder in die Gegenwart zurück holt. «sunrise» ist dabei mehr als ein Markenname. Das Wort setzt eine zeitliche Bewegung fort, die mit dem Titel beginnt. Während «vor sonnenaufgang» die Zeit benennt, die noch der Nacht gehört, vollzieht sich mit «sunrise» die Wendung zum Tag. Nachdem der Liegende den See vor dem Fenster bemerkt hat, vermag er nun auch die Gegenstände zu erkennen.
Als erstes fällt ihm der erwähnte Zeitungstext ins Auge. Die Wörter, die er entziffert, begleiten ihn zurück in die menschliche Welt und richten seine Aufmerksamkeit in Form einer Werbeverlockung auf die Zukunft. Am Schluss des Gedichts steht eine Einladung; mit ihr ist der lesende Kranke in der Sphäre des Entscheidens und Handelns angelangt: «bestellen jetzt».
Der Dichter hat die Ambivalenz des Erlebens seinem Tagebuchgedicht von Anfang an eingeschrieben: Schon in der dunkelsten Phase meldet sich der Lebenswille des Daliegenden, wenn er der Ungewissheit ein lakonisches «aus dem tropf / tropft / es» entgegenstellt oder wie beim Appell seine Zimmernummer aufruft. Sobald die Nacht überstanden ist, erwacht der Schalk des Dichters. «sunrise / bestellen jetzt» klingt wie ein erlösender Seufzer darüber, dass er mit dem Hellerwerden auch seine Ironie wiedergefunden hat.
Max Huwyler, 1931 in Zug geboren, war bis zu seiner Pensionierung Sekundarlehrer im Kanton Zürich. Er schreibt Texte für Kinder, Stücke für die Schulbühne, Hörspiele und Gedichte, darunter auch solche in seiner Mundart.
Letztes Jahr erschien zu seinem 80. Geburtstag im Innerschweizer Verlag Martin Wallimann der Lyrikband «mitunter überleben», dem das Gedicht entnommen ist. Heute lebt der Autor wieder in Zug.