Wochengedicht #34: Nico Bleutge

Unser Wochengedicht stammt diesmal von Nico Bleutge. Der gebürtige Münchner (Jahrgang 1972) ist Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Am 25. November 2012 konnte er in Wien den diesjährigen Erich-Fried-Preis entgegennehmen.   bewegte landschaft. heute sind es die wolken, die eine sichtlinie ziehen, quer über den himmel auf dem vordach, […]

Wochengedicht

Unser Wochengedicht stammt diesmal von Nico Bleutge. Der gebürtige Münchner (Jahrgang 1972) ist Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Am 25. November 2012 konnte er in Wien den diesjährigen Erich-Fried-Preis entgegennehmen.

 

bewegte landschaft. heute sind es die wolken, die
eine sichtlinie ziehen, quer über den himmel
auf dem vordach, glänzend, wartet die krähe
kurz vor dem flug ins gebüsch
drehen die spatzen noch einmal ab, jagen weit
in die senke zwischen den hügeln
über die bunker hinweg, die sich ausstrecken
mürbe baracken aus blech mit kontaktstreifen
in nato-bemalung; sonst nur der wind
auf den pfützen, die küste zwei stunden entfernt

Das Gedicht wirkt wie eine Fotografie, die einen Anblick festhält, einen gewöhnlichen Anblick, der sich von anderen dadurch unterscheidet, dass jemand den Auslöser betätigt oder ein Gedicht schreibt. Was wir erfahren: Der Schauende befindet sich in einer flachen Landschaft, viel Himmel über ihm, im Vordergrund ein Gebäude mit Vordach, Gebüsch, im Hintergrund steigt das Land zu Hügeln an. Ob hier Leute wohnen? Die Bunker und Baracken deuten auf militärische Nutzung des Geländes hin, sie machen einen verlassenen Eindruck, sind wohl ausser Betrieb: Es ist nirgends von Einzäunung die Rede, und die Baracken sind «mürbe». Die Überbleibsel des Kalten Kriegs fügen sich schon fast harmonisch in die friedliche Landschaft.

Wo ist Bewegung?

Insgesamt entsteht eher der Eindruck von Stillstand und Öde als dass jene Bewegung sichtbar würde, von der das Gedicht eingangs spricht. Nur Weniges gibt es in der Beschreibung, das von einem Verb der Bewegung begleitet ist, die Wolken, die Spatzen, die Bunker. Die Bewegung kommt woanders her, nicht aus der Landschaft, sondern von dem, der sie betrachtet. Sein Gedicht endet in einer Bemerkung, die nicht ganz zu den vorausgehenden Sätzen passen will: «die küste zwei stunden entfernt». Diese Zeitangabe stammt von einem, der unterwegs ist – sei es zu Fuss, mit dem Rad oder motorisiert. Sie deutet ein Ziel an, das es zu erreichen gilt, ist gleichsam der zu einem Satz gewordene Blick auf die Uhr.

Dass der Dichter am Schluss, und unerwartet, von seinem Ziel spricht, verleiht diesem eine gewisse Bedeutung. Andererseits fügt sich die Erwähnung der Küste so nahtlos in die übrige Beschreibung ein, dass sie wie eine Eigenschaft der Örtlichkeit wirkt: Hier ist man zwei Stunden vom Meer entfernt. Die Küste scheint für ihn letztlich so wenig Gewicht zu haben, dass er ihre Erwähnung an den Rand seiner Betrachtung schiebt. Er hat es nicht eilig sie zu erreichen, er lässt sich durch die Einmaligkeit des Ausblicks verführen, dessen Reiz gerade in seiner Gewöhnlichkeit liegt. Das Gedicht stammt von einem, der sehen, nicht ankommen will, dessen Reise, wohin sie immer führt, in diesen einen Augenblick mündet, den er für sich und für das Auge der Lesenden festhält und vor dem alles Weitere unwichtig wird.

Der Münchner Nico Bleutge (*1972) studierte Neuere Deutsche Literatur, Allgemeine Rhetorik und Philosophie in Tübingen. Er hat bisher zwei Gedichtbände verfasst, zahlreiche seiner Gedichte erschienen in Anthologien und Literaturzeitschriften. Der in Berlin lebende Dichter arbeitet als freier Literaturkritiker für renommierte Tageszeitungen in Deutschland und der Schweiz.
Am 25. November konnte er in Wien den diesjährigen Erich-Fried-Preis entgegennehmen. Das Gedicht stammt aus dem Band «fallstreifen», erschienen 2008 im Verlag C.H.Beck.

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