Wochengedicht #36: Michael Krüger

Michael Krüger ist ein umtriebiger Mann in der deutschsprachigen Literaturszene: Verlagsleiter, Herausgeber, Übersetzer, Erzähler – und Poet. So schildert er in unserem Wochengedicht, wie der Geist der Poesie auf ihn zukommt und durch ihn hindurch zieht.   Einer kam langsam auf mich zu,den Hut in der Stirn,die Hand über den Augen,ein Dichter ausser Dienst.Auf seinen […]

Wochengedicht

Michael Krüger ist ein umtriebiger Mann in der deutschsprachigen Literaturszene: Verlagsleiter, Herausgeber, Übersetzer, Erzähler – und Poet. So schildert er in unserem Wochengedicht, wie der Geist der Poesie auf ihn zukommt und durch ihn hindurch zieht.

 

Einer kam langsam auf mich zu,
den Hut in der Stirn,
die Hand über den Augen,
ein Dichter ausser Dienst.
Auf seinen T-Shirt stand:
Ich spreche die paradiesische Sprache.
Er ging durch mich hindurch
und nahm den letzten Zug,
der für mich bestimmt war.
Keine Ahnung, was aus mir
geworden wäre. Von der Wahrheit
kennen wir nur den lausigen Kern.

Es könnte der Tod sein, der sich in der Art eines Westernhelden langsam nähert. «Die Hand über den Augen», sieht er sich nach seinem nächsten Opfer um. Er geht durch dieses hindurch und verschwindet. Die Szenerie passt perfekt zu dem, was vor sich geht: Es ist Abend, der letzte Zug fährt ohne den ab, der noch hätte einsteigen wollen. Zurück bleibt ein sterblicher Rest, der die vielen Möglichkeiten, die in ihm gesteckt haben und die noch längst nicht ausgeschöpft waren, kaum noch erahnen lässt.

Dichtergeist a.D.

Über den Mann mit in die Stirn gezogenem Hut ist nicht mehr zu erfahren, als dass er ein «Dichter ausser Dienst» sei – für den Tod ein eigenartiges Attribut. Die poetische Aufschrift auf seinem T-Shirt weist ihn denn auch weit eher als Dichter denn als Freund Hein aus. Ja, ein Poet ist es, der da kommt, wenn auch nicht einer aus Fleisch und Blut, sondern als dichterisches Potential «ausser Dienst», das nach einem passenden Menschen Ausschau hält, in dem es sich verwirklichen könnte. Der Schreibende muss zusehen, wie der Geist der Poesie auf ihn zukommt, durch ihn hindurch zieht und unverrichteter Dinge weiter geht. Das Gedicht handelt von einem verpassten Liebesakt.

Es steht im Präteritum, gilt also einer Erinnerung, einem Moment, der vielleicht weiter zurückliegt. Das schreibende Ich war einst von der Hoffnung erfüllt, zu einer «paradiesischen Sprache» finden zu können. Nun blickt es auf diese Zeit zurück und stellt sich im Nachhinein die Frage, was aus dem damaligen Versprechen hätte werden können. Es stellt die Frage auffallend nüchtern, ganz so, als zweifle es daran, dass es mit der Botschaft der Schönheit weit gekommen wäre. Zurück bleibt dennoch eine Enttäuschung, die im Wort «lausig» ihren Niederschlag findet. Das Versprechen trug das Scheitern in sich, es war von Beginn an von der Aura des Todes umgeben, die im Gedicht so deutlich mitschwingt.

Dichtergeist in spe

Die letzte Zeile endet mit dem Wort «Kern», das zu diesem ernüchternden Befund in krassem Gegensatz steht. Mit diesem Wort bringt Michael Krüger die Erwartung des Wunders, die er in seinem Gedicht begraben hat, unter der Hand wieder ins Spiel. «Kern» ist der Gegenpol zu «Letzter Zug»; Titel und Schluss stecken das Spannungsfeld ab, in dem sich schöpferisches Schaffen abspielt, das Zittern zwischen Zuversicht und Zweifel, zwischen Resignation und einem verborgenen Rest, aus dem jederzeit wieder Neues hervorgehen kann.eder Neues hervorgehen kann.

Der Lyriker, Erzähler, Übersetzer und Herausgeber Michael Krüger, geboren 1943 in Wittgendorf, wuchs in Berlin auf. Er arbeitete als Verlagsbuchhändler in London und als Verlagslektor beim Carl Hanser Verlag, dessen literarischer Leiter er 1986 wurde. Seit 1995 ist er Geschäftsführer. Er lebt in München. Sein reiches literarisches Werk, für das er zahlreiche Ehrungen und Preise erhielt, umfasst unter anderem mehr als ein Dutzend Gedichtbände. Aus dem jüngsten, «Ins Reine», Suhrkamp Verlag 2010, stammt das Gedicht.

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