Wochengedicht #39: Sarah Kirsch

Mit dem Winter beginnt auch das neue Jahr. Unser heutiges Wochengedicht, geschrieben von der deutschen Lyrikerin Sarah Kirsch, befasst sich mit diesen Anfängen. WinteranfangDie Vogelhäuser hängen gefüllt in denVerschlossenen purpurnen ZweigenItzt wenn der Frost kommt. Die Schildkröte schläft seit Wochen Neben der Wasseruhr wie ein VampirIn einer Kiste mit Heimaterde. Wenn die Schermäuse die TulpenzwiebelnNicht […]

Vogelhäuschen im Winter.

Mit dem Winter beginnt auch das neue Jahr. Unser heutiges Wochengedicht, geschrieben von der deutschen Lyrikerin Sarah Kirsch, befasst sich mit diesen Anfängen.

Winteranfang

Die Vogelhäuser hängen gefüllt in den
Verschlossenen purpurnen Zweigen
Itzt wenn der Frost kommt.

Die Schildkröte schläft seit Wochen
Neben der Wasseruhr wie ein Vampir
In einer Kiste mit Heimaterde.

Wenn die Schermäuse die Tulpenzwiebeln
Nicht finden werden wir vielleicht alle
Das neue Jahr erreichen

Uns zuprosten und einen Schwärmer
Über dem lautlosen Eis aufsteigen lassen
Die Menschen zu bannen.

Im Grund sind es zwei Anfänge, die das Gedicht benennt, neben dem Winteranfang auch der Beginn des neuen Jahrs. Die Gedanken gehen von dem einen hin zu dem andern, unter diskreter Auslassung der dazwischen liegenden Weihnachtszeit. Die Aufmerksamkeit gilt der Natur, den Tieren in ihrer Winteremsigkeit oder ihrem Winterschlaf. Die Menschen im Haus sind ins Naturgeschehen einbezogen. Sarah Kirsch, die in einem Bauernhaus in Schleswig-Holstein wohnt, bindet sie zusammen mit allen andern Lebewesen, Tieren wie Pflanzen, in ein «Wir»-Kollektiv ein: Wenn die Zwiebeln von den Mäusen nicht gefressen werden, schreibt sie, «werden wir vielleicht alle / Das neue Jahr erreichen».

Sprachzauber

Von der Hausgemeinschaft sind freilich «die Menschen» ausgeschlossen, und aus dem Zusammenhang ist leicht zu erraten, wer mit diesem Pauschalbegriff gemeint ist. Sollen sie doch gebannt werden, wie einst nach dem animistischen Glauben der Germanen böse Geister mit Feuer vertrieben wurden. Jenen, die Schaden anrichten, gilt der Bann – Schaden an dem Kollektiv, von dem die Rede ist, an Pflanzen, Tieren und Menschen gleichermassen. Das Gedicht spielt auf die Bedrohungen an, vor denen Haus, Hof und Landschaft zu schützen sind, und verharrt zwischen Hoffnung und Ironie, zwischen der Anspielung auf ehrwürdiges Brauchtum und einem Silversterscherz. Auffallend, dass das Leben in Haus und Garten in ausführlichen und prallen Bildern erscheint, während die zu bannende Menschheit mit nur einer Zeile abgetan wird, als könnte, als müsste der schiere Sprachzauber das erreichen, was der einsame Schwärmer in der Neujahrsnacht vielleicht doch nicht zustande bringt.

Sarah Kirsch

Sarah Kirsch, 1935 in Limlingerode (heute Ortsteil von Hohenstein) geboren, lebte nach ihrem Biologiestudium und der Ausbildung am Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher in Halle (Saale), später in Ostberlin, wo sie als Journalistin, Radiomitarbeiterin und Übersetzerin arbeitete. Nach ihrer Ausbürgerung im Jahr 1976 siedelte sie mit ihrem Sohn nach West-Berlin über. Die mit vielen Auszeichnungen und Preisen geehrte Lyrikerin und Prosaistin lebt seit 1983 in Tielenhemme in Schleswig-Holstein. Sie hat rund 20 Gedichtbände veröffentlicht. Das Gedicht stammt aus «Schneewärme», Deutsche Verlags-Anstalt, 1989.

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