Kommenden Sonntag wird die Lyrikerin Elisabeth Wandeler-Deck mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichnet. Aus diesem Anlass stellt die Zürcherin unser heutiges Wochengedicht: «8. 4. 1996».
8. 4. 1996
Zettelarbeiten in gewohnter Umgebung
(angeheftete Leichenzettel z. B. gelesen)
morgens bläuliches Serviettengerassel
(Lesefehler) abruptes Teevergießen knapp
verhinderte Seeschlacht (Zugriff verweigert)
am Fuße des Mastbaums flüstert die Einsagerin
Session mit Servierbrettern serviles Getue
armgebeugt (gebeutelte Zettelversammlung)
Wir erhalten, wie es scheint, einen Einblick in die Arbeit der Schriftstellerin. Sie schreibt «in gewohnter Umgebung», wobei die Umgebung eine öffentliche ist, jedenfalls herrscht um sie «serviles Getue», es gibt Serviertabletts und Servietten. Der Ort ist wohl ein Café, alles geht seinen friedlichen Gang, bis die Dasitzende versehentlich ihren Tee ausleert. Die sich ausbreitende Flüssigkeit ruft in ihr die Assoziation Seeschlacht wach, die das Bild eines Mastbaums nach sich zieht. Rechtzeitig kommt Hilfe, der Ausdruck «serviles Getue» bezieht sich vermutlich auf die Säuberungsaktion einer Bediensteten, die mit gebeugten Armen auf dem Tisch Ordnung schafft.
Das Eigenleben der Zettel
Das Gedicht verweigert sich dem raschen Verständnis dadurch, dass die in Klammern gesetzten Bemerkungen sich nicht als Ergänzung des Gesagten lesen, sondern ein gewisses Eigenleben führen. Allerdings ist von Anfang an klar, dass sie irgendwie dazugehören, verbindet sie doch das Wort Zettel, das sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Klammer auftaucht, mit dem Übrigen. Sie verfolgen das Schicksal der auf dem Tisch liegenden Zettel während des dummen kleinen Unfalls, der mit dem Tee passiert: Zunächst sind die Zettel angeheftet (vielleicht am Manuskript oder an Blättern mit Notizen), einer von ihnen wird falsch entziffert.
Ob der Lesefehler daran schuld ist, dass die Autorin den Tee verschüttet, weil sie zu rasch nach dem Zettel greift um ihn richtig zu lesen? Das Gedicht äussert sich dazu nicht, wie es überhaupt keine Zuordnungen vornimmt. So ist bei der nächsten Klammer nicht auszumachen, welche Art von Zugriff verweigert wird, ob auf einem Laptop die anvisierte Internetseite nicht zugänglich ist oder ob die Notizblätter vom Tee nass geworden und für den Moment unbrauchbar sind. Die letzte Klammerbemerkung lässt eher auf diesen Sachverhalt schliessen: Die Zettel sind versehrt; das Wort «gebeutelt», das auch im Sinne von «sich bauschen» verwendet wird, deutet auf einen Wasserschaden hin.
Ein Rätsel gibt das Wort «Leichenzettel» auf, das sich nur schwer in den Kontext einbeziehen lässt. Handelt es sich um längst verarbeitetes Material, das angeheftet geblieben ist? Oder bezieht sich der angeführte Lesefehler genau auf dieses Wort, das falsch entziffert wurde? Vielleicht vermöchte die «Einsagerin» Klarheit zu schaffen. Sie führt ein ähnlich kryptisches Dasein im Gedicht. Ist sie eine zweite am Tisch sitzende Person? Gar eine anwesende Muse? Oder die Dichterin selber (die sich nie als «Ich» meldet)? Kein Schreibmorgen ohne ein kleines Geheimnis. Lassen wir es dabei bewenden, dass beim Chaos, das auf dem Tisch vorübergehend herrscht, jemand ungehindert einsagt und flüstert.
Elisabeth Wandeler-Deck
Elisabeth Wandeler-Deck, geboren 1939 in Zürich, war als Architektin tätig, bevor sie ein Zweitstudium in Soziologie und Klinischer Psychologie an der Universität Zürich sowie eine Ausbildung in Gestaltanalyse anschloss. Seit 1976 ist sie schriftstellerisch tätig, oft in Zusammenarbeit mit Komponisten oder improvisierenden Musikern und Musikerinnen. Das letzte ihrer Werke, von denen je rund ein halbes Dutzend der Prosa und der Lyrik zugehören, ist gerade erschienen: «Ein Fonduekoch geworden sein» (Prosa), edition taberna kritika 2013. Das Gedicht stammt aus «contrabund», Waldgut Verlag, 2001. Elisabeth Wandeler-Deck wird am 27. Januar mit dem Basler Lyrikpreis 2013 ausgezeichnet (Literaturhaus 11.00 Uhr).