Wochengedicht #45: Thomas Kling

Zumindest zu Beginn scheint klar zu sein, wo das Gedicht hinführt: in den Untersuchungsraum eines Spitals oder einer Klinik – doch dann nimmt Thomas Klings Gedicht «Stadium, fortgeschrittn» einen gänzlich anderen Verlauf. Stadium, fortgeschrittn kurvn; knapp und panik. in wasfür stadien, schädelarenen dasvor sich geht.                                   feuerwerxxmusik,die erstn gegnstände; verankerungen dikeine verankerungen mehr sind:                                                    jemand(man kann […]

Thomas Kling

Zumindest zu Beginn scheint klar zu sein, wo das Gedicht hinführt: in den Untersuchungsraum eines Spitals oder einer Klinik – doch dann nimmt Thomas Klings Gedicht «Stadium, fortgeschrittn» einen gänzlich anderen Verlauf.

Stadium, fortgeschrittn

kurvn; knapp und panik. in was
für stadien, schädelarenen das
vor sich geht.
                                   feuerwerxxmusik,
die erstn gegnstände; verankerungen di
keine verankerungen mehr sind:
                                                    jemand
(man kann das, von hier aus, nicht sehn)
langt hin, und noch jemand was man von
hier aus nicht sehen kann; hurtig &
in einiger entfernun‘ geht das vor sich worauf
schon dutzende hinlangen; blökke in bewegun‘, in
gegnbewegun‘: EINE FLUTLICHTBESONNTE
                                 ALEXANDERSCHLACHT /
körper aus ihren verankerungen gerissn / feuersäuln / wa
ssersäulen / tränengasmusik. bei längst geräumtm, über-
sätm rasn werdn tribünen hirntribünen geräumt; kameras
in wankender bewegun‘ weswegn man und wolknmeere nix
mehr sehen kann; ob wer erstikkt (betretne, liegen-
gebliebne körper): nich zu sehn. strikt
wird geschnittn jezz; verscherbter stattkern,
kordons, di vielen busse. wir sehn uns
das später, um zehn, noch ma an.

Zumindest zu Beginn scheint klar zu sein, wo das Gedicht hinführt: in den Untersuchungsraum eines Spitals oder einer Klinik. Dort sieht man Aufzeichnungen von Messgeräten («kurvn»); im Übrigen herrscht eine anonyme Sachlichkeit, handelnde Personen kommen nicht vor. Die Befürchtung steht im Raum, dass ein fortgeschrittenes Stadium der Krankheit vorliegen könnte, sie verdichtet sich im Wort «panik».
Dieses Wort geht mit dem Wort Stadium auf der zweiten Zeile eine Allianz ein, die sich als entscheidend für das ganze Gedicht herausstellt: Stadium tritt, doppeldeutig, im Plural «stadien» auf, der sich genauso gut von Stadion herleiten lässt. Man assoziiert «panik» mit Stadion umso leichter, als das nachfolgende Wort «schädelarenen» das Wort Arena einführt. Und so verändert sich vor unseren Augen der Schauplatz. Von jetzt an beschäftigt sich das Gedicht mit den dramatischen Vorfällen im Stadion und die Klinik ist vergessen. Jedenfalls beinahe.

Ein Inferno im Stadion …

Mit «feuerwerxxmusik» ist der Szenenwechsel definitiv vollzogen. Im Stadion ist der Teufel los: Knallkörper explodieren, Gegenstände werden auf das Spielfeld geworfen, es gibt eine Schlägerei («jemand / langt hin, und noch jemand»). Fans und Sicherheitskräfte liefern sich eine Schlacht, Wasserwerfer und Tränengas werden eingesetzt. Eine Massenpanik bricht aus, in deren Verlauf möglicherweise Leute zu Tode getrampelt werden. Die Ausschreitungen setzen sich in die Innerstadt fort, begleitet von Fernsehjournalisten, die ihr Bildmaterial stark zusammenschneiden. Dennoch, so der Schluss, wird man sich das Inferno in der Tagesschau noch einmal ansehen können.

Die dramatischen Vorgänge im Stadion haben das Thema Krankheit / ärztliche Untersuchung so sehr verdrängt, dass von diesem nichts mehr übrigbleibt. Selbst der Anfang kann im Nachhinein als Einleitung zum grossen Rabatz gelesen werden: «kurvn» meint die Fankurven, und der Titel „Stadium, fortgeschrittn“ nimmt Bezug auf den Zerfallsprozess, den die Gesellschaft erreicht hat. Man kann es bei dieser Sichtweise durchaus bewenden lassen.

… oder ein Arztbesuch?

Was aber geht im Leser vor, der mit seinen Assoziationen fatalerweise zunächst in die Klinik statt ins Stadion geraten ist? Ihm (ihr) verstärkt sich im Verlauf der Lektüre die Gewissheit, dass der Untersuchungsraum nach wie vor Schauplatz des Geschehens ist. Den Ausdruck «verankerungen di / keine verankerungen mehr sind» liest er als Verlust aller Sicherheit angesichts eines drohenden Eingriffs, auch angesichts von im Gange befindlichen Vorbereitungen, die man „von hier aus“ nicht sehen kann. Kameras bewegen sich. Droht schon das Skalpell («strikt / wird geschnittn jezz»)? Der Arzt verabschiedet sich mit den Worten «wir sehn uns / das später, um zehn, noch ma an». – Die dazwischen liegenden Bilder sind Erinnerungen an Gewaltszenen, die sich dem Patienten im Moment aufdrängen, wo er Gewalt am eigenen Leib erfährt oder diese befürchtet. Die Überblendungen der beiden so verschiedenen Erfahrungswelten verfliessen an den Rändern, geben aber gewisse Details so präzise wieder, dass die Welt des Sports und jene der Medizin sich problemlos gegeneinander behaupten können.

Wie auch immer das Gedicht genommen wird, als die Verbindung zweier Spielarten von Gewalt oder als Darstellung einer Eskalation im Stadion, es vollzieht den Kontrollverlust mit, von dem es spricht. Seinen Worten fehlen Buchstaben, Satzzeichen sind ausgefallen, die Orthografie durchbricht die geltende Norm. Durch die sprachliche Unbotmässigkeit werden herkömmliche Ordnungsmuster gesprengt und die «hirntribünen geräumt». In ihrer saloppen Direktheit führt Klings Sprache nahe ans Geschehen heran, hält zu diesem jedoch, gerade weil ihr schriftlicher Ausdruck ungewohnt ist, eine glasklare Distanz – eine Distanz, die es beim Lesen erlaubt, im Gedicht zwei verschiedene Geschichten zu verfolgen.

Thomas Kling (1957 – 2005) ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Dichter der Jahrhundertwende; seine performativen, von der Umgangssprache geprägten Gedichte wurden stilbildend für eine ganze Generation. Er lebte zusammen mit der Malerin Ute Langanky auf dem Gelände der ehemaligen Raketenstation Hombroich bei Neuss. 2005 verstarb er nur 47-jährig an Lungenkrebs. Geschrieben hatte er unter anderem rund ein Dutzend Lyrikbände. Das Gedicht stammt aus dem Nachlass. 1991 verfasst, wurde es 2011 zum ersten Mal veröffentlicht in «Das brennende Archiv», zusammengestellt von Norbert Wehr und Ute Langanky, in Nr. 76 der Literaturzeitschrift «Schreibheft». Ein Jahr später erschien der Band als suhrkamp taschenbuch.

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