Ror Wolf beschert uns diesmal das Gedicht der Woche. «Achtung, wir werden beobachtet», warnt uns der deutsche Prosaist, Lyriker und Künstler – und lässt heitere, schlüpfrige Verse folgen.
ACHTUNG, WIR WERDEN BEOBACHTET
An einem Abend kalt wie heute
tritt eine Frau im Abendkleide
ins Bild wo es verbreitet schneite
Es stößt etwas in ihren Kopf
so nagelhart so klopf so tropf
und etwas öffnet einen Knopf
Es wächst etwas in ihrer Hand
so wild so spitz so unbekannt
so angefüllt bis an den Rand
Es kriecht etwas aus ihrem Mund
so wund so schlund so rund so rund
und etwas knackt im Hintergrund
Es schwillt etwas in ihrem Schoss
so nebelweich so schwamm so gross
so lautlos so erbarmungslos
Es knirscht was unter ihrem Schuh
so weit so breit so ab und zu
es ist der Hut von Doktor Q
Es stöhnt was unter ihrem Fuß
so gurgeltief so nudelmus
das ist der Schluss von dem Genuss
Aufgepasst – wenn Sie dieses Gedicht lesen, werden Sie unweigerlich zum Voyeur. Objekt Ihrer Aufmerksamkeit ist eine Dame im Abendkleid, die «ins Bild» tritt. Offenbar wird sie von einer Kamera aufgenommen, vermutlich einer versteckten, sonst wäre die Warnung im Titel nicht nötig. Wer die Warnung ausspricht, ist wie vieles im Gedicht nicht zu eruieren, vor allem aber bleibt offen, wer gewarnt sein will: die beiden, die jetzt ziemlich forsch zur Sache kommen, oder aber Sie, die Sie lesend sich ins Vergnügen stürzen? In ähnlich doppeldeutiger Art endet das Gedicht. «das ist der Schluss von dem Genuss» kann sowohl den geistigen Genuss Ihrer Lektüre als auch den handfesten der beiden meinen, die es miteinander treiben – falls es zwei sind, und falls sie es miteinander treiben.
Wer mit wem?
Denn die Frage, wer mit wem zugange ist, bleibt auf heimtückische Weise undurchsichtig. Er mit ihr? Oder Ihre Einbildungskraft mit dem, was Sie an Wortrequisiten auf der imaginären Bühne des Gedichts vorfinden? Eindeutig gesetzt ist einzig die «Frau im Abendkleide» in der ersten Strophe. Darauf folgt eine Serie von Anspielungen und Zweideutigkeiten. Das Gedicht gibt sich alle Mühe, Ihr Vorstellungsvermögen auf Touren zu bringen, ohne sich jedoch bei einer präzisen Aussage erwischen zu lassen. Es löst die Dame im Abendkleid vor Ihren Augen in ihre Bestandteile auf, die als Hand, Mund, Schoss gleichsam voneinander unabhängig tätig werden oder etwas erleiden. Die Körperteile sind mit einem Gegenüber beschäftigt, das lediglich als unpersönliche Wendung «es» resp. «etwas» auftritt, ohne weiter Gestalt anzunehmen. Die Sexszene, die sich zwischen der Dame und diesem Es zuträgt, angereichert mit Adjektiven wie «spitz» und «gurgeltief» und angetrieben durch Verben wie «schwillt» oder «stöhnt», ist – mit Verlaub – Produkt Ihrer blühenden Fantasie.
Insbesondere ist nie von einem männlichen Wesen die Rede, bloss von einem Hut, der einem Doktor Q. gehört und sich auch zufällig im Zimmer befinden kann. Wobei Zimmer zu viel gesagt ist, es wird kein Innenraum erwähnt. Trotzdem ist Ihre Vorstellung, irgendwie drinnen zu sein, nicht falsch. Ja, Sie sind drin: im Bild. In der Kamera, vor der Sie gewarnt wurden und die Sie nicht nur beim Lesen beobachtet, sondern auch dabei ertappt, wie in Ihrem Kopf aus einem bunten Haufen einschlägiger Wörter der präzise Ablauf eines erotischen Akts Gestalt annimmt. Ror Wolfs Gedicht, schon durch seinen volkstümlichen Ton und die schlichten Reime ein heiteres Vergnügen, erhöht den Spass insofern, als es Strophe für Strophe erkennen lässt, was in Ihrem Bewusstsein vor sich geht, wenn der Blick auf Gedrucktes fällt und die Imagination daraus eine Geschichte macht. Es öffnet die Augen für den Vorgang des Lesens überhaupt, und dies bei einem Thema, von dem man gerne annimmt, es enthalte nicht viel Gescheites.