Ein heiteres Allegro durchpulst das Gedicht von Jürgen Theobaldy: Zu seiner «Rille» kann jeder und jede im inneren Ohr den eigenen Sound hören.
Rille
Die schwarze Scheibe liegt und dreht
und dreht sich um sich selbst,
bewegt vom flachen Teller unter ihr,
indes die Nadel sich nach innen schiebt
und langsam hin zur Mitte zieht,
ein stetes Tasten durch die Rille,
auf der das Licht der Lampe steht
und schwach erhellt, was vor sich geht:
die schwarze Scheibe, die da kreist
und ihren schwarzen Kreis umreisst,
bis meine Hand, anstatt sie anzuhalten,
sie wendet, um ihr einzugeben, fort
und fort sich um sich selbst zu drehen,
in diesem Drehen doch zu stehen,
wo Ton und Klang, Klang und Gesang
im Stelldichein sich wandeln und verwehen.
Das Gedicht scheint – dem Präsens zum Trotz – ganz in der Erinnerung angesiedelt und wird bei jenen Leserinnen und Lesern, deren Lebenslauf über den CD-Graben hinweg bis in die Schallplattenepoche zurück reicht, nostalgische Gefühle wecken. Darüber könnte leicht vergessen gehen, dass der Plattenspieler für manche Generation Jugendlicher das Gerät war, mit dem sie mit der Musiktradition der Eltern aufräumten und sich den Sound ins Haus holten, der ihr junges, der Zukunft zugewandtes Lebensgefühl ausdrückte.
Die beiden Gesichter der Schallplatte, das nostalgische und das revoltierend-aufbrechende, sind in der äussern Gestalt des Gedichts gleichermassen angelegt. Auf der einen Seite hält sich dieses an die herkömmlichen Gesetze von Strophe, Rhythmus und Reim. Für einen Anhänger sauberer Verskunst vernachlässigt es dagegen in sträflicher Weise genau die Vorgaben, die es einzuhalten sich den Anschein gibt. Der Reim steht, wo er will, die Zeilen sind nach Belieben drei-, vier- oder fünfhebig, und das hat zur Folge, dass sich keine zwei Strophen finden, die rhythmisch genau gleich gebaut sind. Zumindest was die Baukunst des Gedichts angeht, wird die rückwärtsgewandte Sehnsucht nur bedingt bedient.
Heiteres Allegro
Jürgen Theobaldy beschreibt den Vorgang des Abspielens so exakt, dass diesen auch plastisch vor sich sieht, wer nie eine schwarze Scheibe aufgelegt hat. Wie die Platte nur eine einzige Rille hat, die ohne Unterbruch vom Anfang zum Ende führt, hat sein Gedicht nur einen Satz. Und wie beim Abtasten der Rille durch die Nadel erklingt beim Lesen nichts anderes als Musik.
Ein beschwingter Rhythmus fährt durch die Zeilen, dessen Leichtigkeit und Tempo von den die vielen kurzen, fast durchgehend ein- oder zweisilbigen Wörter her rühren. Nur einmal bremsen zwei Dreisilber den Lauf etwas ab, genau dort, wo die Musik unterbrochen, die Automatik angehalten und die Platte umgedreht wird, sowie am Schluss, der den endlosen Fortgang des Genusses andeutet. Wortwiederholungen und die kreisende Bewegung von Doppelausdrücken wie «dreht und dreht», «fort und fort» geben sowohl das Drehen der Schallplatte als auch das Tänzerische der laufenden Melodie wieder, unterstützt durch die Reime, die starke Akzente setzen und mit den Dreierfolgen «drehen – Drehen – stehen» und «Klang, Klang und Gesang» zum Crescendo in die Schlussrunde führen.
Ein heiteres Allegro durchpulst das Gedicht, zu dem jeder und jede im inneren Ohr den eigenen Sound hören kann, verklärt-klassisch, polkahaft-volkstümlich oder als ein Stück fetzigen Jazz.
Der Lyriker, Prosaist und Übersetzer Jürgen Theobaldy, 1944 in Strassburg geboren, aufgewachsen in Mannheim, studierte Literaturwissenschaft in Heidelberg, Köln und Berlin. Seit 1984 lebt er in der Schweiz, heute in Bern. Er veröffentlichte über ein Dutzend Lyrikbände. Das Gedicht stammt aus dem letzten von ihnen, «Suchen ist schwer», Verlag Peter Engstler 2012.