Wochengedicht #53: Gerhard Falkner

In unserem heutigen Wochengedicht blickt der deutsche Lyriker Gerhard Falkner aus dem Fenster und wird sich einer Traumlandschaft aus einzelnen Bildern beziehungsweise Wortbrocken gewahr. rücke, rocke, recke, röche, rucke Vom Fenster sah ich kurz die Bäumees waren Männer mit langen Ästendie im Rotlicht einer Ampel standenauf ihren Rücken trugen sie Häuserin deren Fenstern Frauen flüsterndan […]

Gerhard Falkner.

In unserem heutigen Wochengedicht blickt der deutsche Lyriker Gerhard Falkner aus dem Fenster und wird sich einer Traumlandschaft aus einzelnen Bildern beziehungsweise Wortbrocken gewahr.

rücke, rocke, recke, röche, rucke

Vom Fenster sah ich kurz die Bäume
es waren Männer mit langen Ästen
die im Rotlicht einer Ampel standen
auf ihren Rücken trugen sie Häuser
in deren Fenstern Frauen flüsternd
an den Wänden klebten, so lange
ihre Röcke tauschend, bis sie blank
wie halbe Monde in den Fenstern standen
und die Blätter von den Bäumen
wie von den Blicken dieser Männer
angeblasen: leise rauschten

Es könnte ein Traum sein, der sich hier beschrieben findet. Ähnlich wie in einem Traum sind die Gesetze der Logik ausser Kraft gesetzt, Ding und Mensch verfliessen ineinander, die Raumverhältnisse bleiben undeutlich. Ein Hauch Romantik zieht sich durch diesen Traum, hervorgerufen durch die Erwähnung von Bäumen, von Frauengeflüster und Blätterrauschen, aber auch durch die Wörter «Rotlicht» und «Mond», die eine nächtliche Szenerie heraufbeschwören. Und auch eine leise Erotik schwingt mit – nackte Frauen in den Fenstern, Blicke der Männer, welche die Blätter in Schwingung bringen.

Weigerung des Titels

Gegen eine solch ganzheitlich-harmonisierende Lesart des Gedichts scheint der Titel rebellieren zu wollen. Er setzt in einer nüchternen Folge einzelne Wortbrocken schroff nebeneinander. Bei diesen kann es sich um konjugierte Verben handeln, denen das Subjekt fehlt (ich «rücke, rocke, recke, röche, rucke») oder um Varianten der aus dem Text entlehnten Substantive «Rücken» resp. «Röcke». Mit der Verkettung von unzusammenhängenden Teilen lenkt der Titel das Augenmerk auf eine Eigenheit des Textes: Dieser besteht selber aus einer Verkettung von Bildern, die wenig Bezug zueinander haben.

Wie auf einem surrealistischen Gemälde sind Einzelmomente, die nichts Traumartiges an sich haben, zu einem Ganzen montiert. Ausgangspunkt bildet der Blick aus einem Fenster, vor dem sich eine höchst prosaische Sicht eröffnet: Im Vordergrund steht eine Gruppe von Bäumen, die an Männer erinnern; hinter ihnen erheben sich Häuser, die sie an Höhe überragen, sodass es aussieht, sie würden von ihnen getragen. Die Fassaden sind mit Reklame beklebt, modisch gekleideten Frauen, die erotische Fantasien von Nacktheit erregen; es geht ein Wind, der die Blätter zum Rauschen bringt. Vielleicht ist das Gedicht aus einer solchen Beobachtung am Fenster heraus entstanden und hat der Dichter die Elemente des Beobachteten zum Ganzen gefügt. Von der Montage ist glücklicherweise nicht mehr viel zu spüren – aber doch soviel, dass das Gedicht nicht einfach zum Vorstadtidyll, zur reinen Traumlandschaft verkommt.

Gerhard Falkner, geboren 1951 in Schwabach in der Region Nürnberg, begann nach einer Buchhändlerlehre und anschliessenden Reisen Mitte der 1970er Jahre mit Schreiben. Seitdem hat er sieben Gedichtbände veröffentlicht, ein essayistisches Werk geschaffen, Werke aus dem Englischen und Ungarischen übersetzt. Heute lebt Gerhard Falkner im oberpfälzischen Weigendorf und in Berlin. Das Gedicht entstammt dem Band «Hölderin Reparatur», Berlin Verlag 2008.

Nächster Artikel