Wochengedicht #54: Kurt Drawert

Der deutsche Lyriker Kurt Drawert hat die Essenz einer Quizshow lyrisch verarbeitet. So rasch wie die ganze Sendung an den Zuschauern vorbeiflimmert, rasselt auch das Gedicht herunter. Quiz Wer hat schwanger von a), b) oder eine andere Frage, Geschichte: wie viele Juden, vier oder drei, es geht um eine halbe Million, Sie können auch das […]

Wochengedicht

Der deutsche Lyriker Kurt Drawert hat die Essenz einer Quizshow lyrisch verarbeitet. So rasch wie die ganze Sendung an den Zuschauern vorbeiflimmert, rasselt auch das Gedicht herunter.

Quiz

Wer hat schwanger von a), b) oder

eine andere Frage, Geschichte: wie

viele Juden, vier oder drei, es geht

um eine halbe Million, Sie können

auch das Publikum fragen und ich

gebe jetzt ab an „diese Sendung

wurde Ihnen präsentiert von“ x), y)

oder die Werbung, die Nachrichten,

         die Wetterbericht.

Kurt Drawert hinterlässt uns das Kurzprotokoll einer Fernsehsendung, zusammengezogen auf einzelne Sätze und Satzfragmente, die beliebig aneinandergereiht sind. Scheinbar beliebig. Die Beliebigkeit ist nicht nur das Aufbauprinzip des Gedichts, sie ist auch dessen Thema. Weit davon entfernt, sich für den Inhalt der Quizfragen, die erwarteten Antworten, die Namen der gesuchten Promis zu interessieren oder das Verhalten des Quizmasters zu schildern, führt der Neunzeiler vor, wie die Sendung als solche angelegt ist. Eine Frage folgt hier wahllos der andern und entwertet diese. Eine Antwort löst die andere ab und neutralisiert sie. Nichts ist von Bestand in der Abfragerei von Schablonenwissen. Auch ernsthafte Fragen geraten in den Sog der Beiläufigkeit und werden auf das Niveau einer Klatschspalte hinunter gequasselt.

Abstimmung über den Holocaust

Beispielhaft ist dies durchgespielt am Thema Holocaust, das mit dem Stichwort «Geschichte» angesteuert wird. Die geschichtliche Bedeutung des europäischen Dramas wird gleich von drei Seiten her kleingehackt. Zum einen dadurch, dass die Anzahl Toter überhaupt als Quizfrage auftaucht. Dann durch die Zahl «Million», die nicht, wie beim Lesen erwartet, als Mass für die Vernichtungswut der Nazis eingesetzt ist, sondern die Höhe der Summe bezeichnet, um die gespielt wird. Und schliesslich indem der nachfolgende Satz «Sie können / auch das Publikum fragen» die historische Wahrheit von der Willkür einer Zufallsmehrheit unter dem Vergnügungspublikum abhängig macht. Und eigentlich noch ein viertes Mal. Mit der Überleitung zum Abspann und einer Folgesendung ist das gesamte Quizprogramm, Holocaustfrage inklusive, schon beiseite geschoben und aus dem Gedächtnis weggekippt.

So rasch wie die ganze Sendung an den Zuschauern vorbeiflimmert, rasselt auch das Gedicht herunter. Kaum hat man die Stirn in Falten gelegt um zu begreifen, was da genau vor sich geht, ist es zu Ende. Gut, kann man mit Lesen in Ruhe von vorne beginnen und die Kunstfertigkeit geniessen, mit der Kurt Drawert von Dingen spricht, die er nie direkt benennt.

Der Autor und Herausgeber Kurt Drawert wurde 1956 in Hennigsdorf (Brandenburg) geboren. In Dresden liess er sich zum Facharbeiter für Elektronik ausbilden. Nach der Ausübung verschiedener Hilfstätigkeiten studierte er am Institut für Literatur in Leipzig, 1986 wurde er freier Autor. Nach der Wende zog er in den Westen; heute lebt er in Darmstadt, wo er seit 2004 das Zentrum für junge Literatur leitet. Neben Prosa, Theaterstücken und Essays zur Literatur veröffentlichte der mit vielen Auszeichnungen geehrte Dichter sechs Bände mit Lyrik. Das Gedicht erschien 2002 bei Suhrkamp in «Frühjahrskollektion»; Kurt Drawert nahm es auch in den Sammelband «Idylle, rückwärts. Gedichte aus drei Jahrzehnten» auf, den der C.H.Beck Verlag 2011 veröffentlichte.

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