In unserem heutigen Wochengedicht «Fremd bei mir selbst» beschreibt Robert Schindel ein lyrische Ich, das sich und der Welt überdrüssig ist. Es reagiert darauf mit Trotz.
Fremd bei mir selbst bin ich geworden.
Der Takt der Schritte und das Lachen
Der Augenblick. Fremd bei mir selbst.
Sich auf der Schulter sitzen und die Zeit verstreichen
Ins Amt gehn, Damen lieben, Sitzungen verkurbeln
Mit Freunden sehend reden. Sich auf der Schulter sitzen.
Die Außenwelt hat sich verpuppt. Die Straßenschluchten
Verengen sich und Vorsommer in den Träumen
Die schöne Außenwelt hat sich verpuppt und spinnt.
Kein Streit. Der Sauerampferwein wie Schluck für Schluck.
Das Ausland in der Brust. Die persönlichen Feinde
Sterben aus. Ich bin so mild. Kein Streit.
So leb ich nicht so gern. Die Politik
Aber lässt mich nicht sterben. Der Entbehrliche
Wird noch gebraucht. So lebe ich.
Der Beginn des Gedichts erinnert von ferne an das erste Lied in Schuberts Zyklus «Winterreise» von 1827: «Fremd bin ich eingezogen / Fremd zieh ich wieder aus». Die Verwandtschaft mag vom ersten Wort herrühren, bei dem man nicht recht weiss, soll man es (wie Schubert es tut) betonen oder (wie vom Versmass vorgesehen) unbetont belassen, sie stellt sich vor allem aber vom Thema her ein. Während Wilhelm Müller, der Dichter des Lieds, einen Liebesschmerz beklagt und den Grund seiner Zurückweisung in seiner prekären sozialen Stellung als Wandergeselle findet, muss Robert Schindels lyrisches Ich mit einem hausgemachten Schmerz fertig werden. Es ist sich und der Welt überdrüssig.
In fünf Anläufen beschreibt es seine Entfremdung. Es sieht sich selber beim unnützen Tagewerk zu, erlebt die Umwelt als unzugänglich, sich selber als untätig und angepasst. Man könnte mit ihm Mitleid empfinden, aber auf Mitleid ist das Gedicht überhaupt nicht aus. Sein Tonfall wird immer wieder rau und kratzbürstig. Wenn es in der zweiten Strophe eine Beamtenexistenz beschreibt, lässt der zwischen den Zeilen vernehmbare Hohn daran zweifeln, dass der Dichter hier von sich selber spricht. Viel eher scheint dieser im Rollenspiel ein Ich zu mimen, das brav ins Amt geht und dort nichts tut als «die Zeit verstreichen» zu lassen. Das lähmende Ambiente einer einfallslosen Bürgergesellschaft ist es, das ihm aufstösst und das auch ihn selber so weit zurechtgeschliffen hat, dass er sich mittlerweile viel zu zahm und selbstzufrieden vorkommt. Ab und zu meldet sich sein aufrührerisches Wesen aus dem Untergrund zu Wort, in Ausdrücken wie «Sitzungen verkurbeln», «die Außenwelt spinnt» oder in der bedauernden Feststellung «Kein Streit».
Der Trotz als Energiequelle
In der letzten Strophe bricht der Trotz endgültig durch. Das Ich spürt, dass es nicht in die vorgefertigten Formen passt, die ihm seine Umgebung bereit hält, und dass es für den reibungslosen Gang der Dinge nur einen Störfaktor darstellt. Gerade dieser Umstand scheint ihm neuen Antrieb zu geben. Es braucht den Disput und die Auseinandersetzung, es braucht die Einmischung in «die Politik», um zu überleben.
Die letzte Zeile schliesst vom Rhythmus her an die Klage des Anfangs an. Aber die Klage hat sich inzwischen in Grimm verwandelt. Zwar ist dem Ich zu glauben, es lebe «nicht so gern», doch andererseits fällt ins Auge, dass der Schluss der letzten Strophe nicht, wie bei den übrigen Strophen, den Beginn noch einmal aufnimmt. Wohl sind die Worte «so lebe ich» wiederholt, der entscheidende Zusatz «nicht so gern» jedoch fehlt. Im Sinn der Richtung, die das Gedicht inzwischen genommen hat, wäre zu ergänzen: Leute, mit mir ist weiterhin zu rechnen!