Am Pfingstmontag, am Ende eines kurzen Urlaubs also, präsentieren wir unser neues Wochengedicht. Die deutsche Lyrikerin Ursula Krechel erzählt darin von Strandläufern am westlichen Rand der Welt.
Welle auf Welle, was auch geschieht
Fusssohlenfieber, sandiger Geschmack im Mund
ein Wall aus breiten Schultern, heldisch bronziert
Westuhren rasen, doch jede Zeit, die sie zeigen
ist jünger als die östliche.
Leute haben unübersichtliche Körper, unübertrefflich
die Ferienordnung, doch sie sind voller Aufruhr
gegen das Widrige, das ihnen selbst widerfuhr
(Reisepleite, Regenperiode, Rabeneltern)
blind für das Unglück, das andere trifft
(Meermangel, Dürreperioden, Westbindungslosigkeit).
Das Leben? Mangel an Übermeerwasser
Punkte am Horizont, nasse Sternschnuppen
Leute laufen wie Zeichen auf Zeilen
flimmernde Untertitel in einem fertigen Bild
ausgestrahlt, unglücklicherweise, wo sie nicht sind..
Wasser, Sand, ein Strand, bevölkert von Urlaubern. Diese werden als «Leute» eingeführt, mit einem Wort, welches das Anonymisierte, Massenhafte betont. Die «Leute» haben Sonnenbrand («heldisch bronziert»), scheinen das Sonnenbad nicht gewohnt zu sein und sich auch nicht durch Fitness in Form zu halten («unübersichtliche Körper»). Offenbar haben sie schlimme Erfahrungen hinter sich, mit denen sie noch nicht klar gekommen sind; kein Wunder, dass sie vor allem mit sich selbst beschäftigt sind und für das Los anderer Menschen kein Interesse haben. Wo befinden sie sich? Das Gedicht bringt den Strand nicht mit dem Süden, sondern mit dem Westen in Verbindung. Liegt er an der Atlantikküste? Oder ist der «westliche Rand der Welt» gar nicht so weit weg, ist er in Deutschland, in Berlin – spielt die Szene am Wannsee?
Der Osten im Westen
Der Ausdruck «Westuhren rasen» nimmt die Ortsangabe des Titels nochmals auf; mit dem Nachsatz, «jede Zeit, die sie zeigen / ist jünger als die östliche» wird das Thema West-Ost ausdrücklich gesetzt. Es könnte sich um eine Anspielung auf die Zeitverschiebung auf dem Globus handeln, darauf, dass gegen Westen hin der Tag später beginnt, «jünger» ist als im Osten. Doch hier ist wohl weniger die geografische Lage des Strands gemeint als die Menschen, die sich an ihm tummeln.
Es sind Menschen aus dem Osten, die nach dem Mauerfall dorthin strömen, wo nicht nur die Zeit für sie «jünger» ist, sondern auch das Warenangebot, die Technologie, die Mode. Mit „Welle auf Welle“ könnten sie und ihre Wanderbewegung gemeint sein, die so als Invasion charakterisiert wird. Das würde zum «Wall aus breiten Schultern» passen, einer Formulierung, die etwas leicht Gewalttätiges an sich hat.
An gewissen Stellen vollzieht das Gedicht die beschriebene Massierung sprachlich mit: In den zahlreichen Alliterationen zieht ein Buchstabe gleichlautende Buchstaben nach sich («Welle/Welle/was», «Reisepleite/Regenperiode/Rabeneltern»), auch gesellen sich einzelne Wörter zu ähnlich klingenden («unübersichtlich/unübertrefflich», «Widrige/widerfuhr»).
Das «Fusssohlenfieber», das sie gepackt und hergebracht hat, macht die Leute nicht glücklich. Das Schlussbild zeigt sie aus der Totale, wo sie «wie Zeichen auf Zeilen» erscheinen, als Untertitel in einem fertigen Arrangement, das nicht für sie gedacht ist. Wer in diesem Bild letztlich festgehalten wird, ob es Gäste aus dem Osten sind, die hier den Westsand erobern, ist in dieser Einstellung nicht erheblich. Diese weitet sich metaphorisch ins Allgemeine, kann sich auf einen Badestrand irgendwo auf der Welt beziehen, mit irgendwelchen Urlaubern als anonymen Mitspielern, die als «Strandläufer» ihrem Leben zu entfliehen suchen.
Ursula Krechel, 1947 in Trier geboren, studierte Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Köln. Von 1969 bis zu ihrem Studienabschluss 1972 war sie Dramaturgin an den Städtischen Bühnen Dortmund, seither ist sie freie Schriftstellerin und lebt heute in Berlin.
Sie veröffentlichte Theaterstücke, Hörspiele und Essays; als Prosaistin wurde sie 2012 für den Roman «Landgericht» mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.Von ihr sind über 12 Lyrikbände erschienen. Das Gedicht ist dem Band «Landläufiges Wunder» (Suhrkamp Verlag 1995) entnommen.