Unser neues Wochengedicht stammt von Hans-Ulrich Treichel und konfrontiert uns mit dem Verhältnis von Wort und darüber evoziertem Bild.
Kein Vogel stürzt, kein Fenster
klirrt, wir sehn es nicht, das wilde
Tier, das uns ins offne Auge stiert
Kein Stiefel und keiner nackter Fuss,
kein Pfiff in stiller Nacht, kein Schuss,
kein Katzenschrei und niemand lacht
Kein Spatenhieb und kein Verdacht,
kein Schlag, kein Tritt in kein Gesicht,
kein letztes Wort: vergiss mich nicht
Es gibt ein bekanntes psychologisches Experiment, in dem die Testpersonen angehalten wurden, nicht an einen rosa Elefanten zu denken. Das Ergebnis war, dass alle sich einen rosa Elefanten vorstellten. Hans-Ulrich Treichels Gedicht hat einen ähnlichen Effekt. Es gib sich Mühe die aufgezählten Gewaltakte, Angstsituationen, Kriegsbilder in Abrede zu stellen. In einem geradezu magischen Beschwörungsritual wiederholt es über ein Dutzendmal das Wort «kein». Sein rhetorischer Parforceritt hält von der ersten bis zur letzten Zeile an. Je länger die Liste wird, desto eindringlicher stellt sich beim Lesen ein, was das Gedicht zurücknehmen will.
Das Dementi, das der Titel in Aussicht stellt, ist ein scheinbares. Schon die erste Strophe macht klar, dass hier nicht mit der Vorstellung eines rosa Elefanten, den noch niemand gesehen hat, gespielt werden soll. Es geht genau umgekehrt darum, eine Wirklichkeit, die niemand sehen will, ins Bewusstsein zu bringen. Der Satz «wir sehn es nicht, das wilde / Tier, das uns ins offne Auge stiert» nimmt Bezug auf eine Realität, von welcher die Medien täglich berichten, ohne dass sie wirklich zu uns vordringt.
Löschen und Erinnern
Im Gegensatz zu den Nachrichtenmedien, die auf der Richtigkeit des Berichteten bestehen, richtet das Gedicht den Fokus auf unser Bewusstsein. Dorthin, wo die Nachrichten noch im Augenblick ihres Eintreffens gelöscht werden. Es bestätigt diesen Löschvorgang ausdrücklich. Nicht daran denken!, lautet seine Botschaft, und mit ihr schmuggelt es den rosa Elefanten der Erkenntnis in die Lektüre ein. Nicht nur erinnert uns seine Aufzählung an manches, was uns aus aller Welt erreicht, sondern wir erkennen darin auch unsere zur Gewohnheit gewordene Reaktion, das Gehörte, Gesehene, Gelesene sogleich aus unserem Kopf zu tilgen. Die letzten Worte «vergiss mich nicht» klingen wie ein traurig-ironischer Seufzer, der sich – «kein letztes Wort» – gleichsam selber aufhebt.
Der Germanist und Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel wurde 1952 in Versmold, Westfalen geboren. An der Freien Universität Berlin studierte er Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft, wurde dort 1983 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen promoviert und habilitierte sich 1993. Seit 1995 lehrt er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er hat neben Prosa (bekannt wurde vor allem sein Roman «Der Verlorene», 1998) acht Lyrikbände veröffentlicht. Das Gedicht stammt aus «Liebe Not», Suhrkamp Verlag 1986.