Unser Wochengedicht des Schweizer Lyrikers Kurt Aebli erzählt uns – passend zur Wanderzeit – von Heimatlosigkeit, von Rastlosigkeit, vom Davonziehen.
Ich oder
ein Wanderer
Ich bin umgezogen
wohne jetzt in meinen Schuhen
meine Adresse wechselt
mit jedem Schritt.
Wer Orientierung sucht in diesem Gedicht, in das man ohne die Vorbereitung eines Titels hineintaumelt (was einem Titel gleicht, ist zugleich die erste Zeile), wird sie in der dritten Strophe finden. «Ich bin umgezogen» ist eine handfeste Aussage. Umzug, das bedeutet gewöhnlich den Wechsel von einem Ort zum andern. Hier aber wird nicht ein neuer Ort angestrebt, sondern der Wechsel als solcher. Alle Bindungen und Verbindlichkeiten werden aufgegeben, das Gehen soll nicht mehr irgendwohin führen, es wird zur eigentlichen Existenzform. Die Heimatlosigkeit als Ziel. Zumindest als Wunsch.
Die mittlere Strophe liest sich wie ein Titel in der Art von Ibsens «Nora oder Ein Puppenheim»: Ich, anders gesagt ein Wanderer. An dieser programmatischen Aussage irritiert freilich das «Oder». Zu erwarten wäre eher eine Gleichsetzung: Ich bin ein Wanderer. Dem Oder wohnt ein leises Zögern inne, es trennt den Wanderer vom Ich, ja es kann einen Gegensatz zwischen beiden markieren: Entweder ich oder ein Wanderer. Das würde bedeuten, dass das Ich, das hier spricht, gerade kein Wanderer ist. Es müsste erst zu einem werden. Um vogelfrei zu sein, müsste es sich aufgeben und verschwinden: entweder – oder.
Chronik des Weggehens
Auch die erste Strophe thematisiert eine Zweiteilung. Die «Spiegelung», von der die Rede ist, setzt zwei Seiten, Bild und Abbild. Das Ich stösst irgendwo auf sein Spiegelbild, erkennt darin ein zweites, ein ungelebtes Ich – dies scheint der Anlass zu sein, der das Wandererthema in Gang bringt. Im Spiegelbild sind beide noch vereint, das Ich und seine Möglichkeit, und die erregende Nähe des Möglichen mag den inneren Brand gelegt haben, der durch das Wort «Entfachtes» suggeriert wird.
Der Ablauf des Gedichts entspricht der verkürzten Chronik dieser Ereignisse: Das Ich erblickt sein Spiegelbild, das in ihm eine lange gehütete Glut entzündet und den Wunsch nach Weggehen, nach Aufgabe seiner jetzigen Existenz weckt. Ihm wird bewusst, dass es vor der Wahl steht, so zu bleiben, wie es ist, oder zum Wanderer zu werden. Dann – Zeitsprung – hat es sich entschieden, es hat das Herumziehen gewählt. Das Gedicht ist seine Abschiedsnotiz, in der eine Spur seines jetzigen Zustands zu finden ist: Das abrupte Wechseln von Strophe zu Strophe, jenes Taumeln, das beim Lesen eine leichte Irritation hinterlässt, verrät den Wechselschritt des Davonziehenden.
Kurt Aebli, geboren 1955 in Rüti ZH, studierte an der Universität Basel Germanistik, Geschichte und Ethnologie. Nach längeren Aufenthalten in Wien und Paris lebt er heute in der Nähe von Zürich. Sein Schreiben bewegt sich zwischen Lyrik und Prosa, bisher sind von ihm gegen ein Dutzend Bücher erschienen. Das Gedicht stammt aus «Die Uhr», Suhrkamp Verlag 2000.