Die deutsche Lyrikerin Nora Bossong erzählt uns das «Märchen vom brennenden Mädchen». Klingt nach einem Drama, das bei genauerem Hinsehen aber viel einfacher ist.
Der Herbst roch klar. Das Binnenland
band sich an Binnenland. Umgebung:
Nebel, norddeutsch. Klostermauern.
Gang um Gang durchkreuzte ihre Tage.
Davongesperrt in ein Gebet, sie hielt es aus,
auch die Gewänder aus verfrühter Zeit,
auch jene Kutten, jene Mäntel,
jene Mäntelchenmadonna, den Blick
der Heiligen, aus Ecken stierend.
Der Herbst roch klar. Norddeutscher Nebel.
Nur draußen, in den Dörfern, brannte Haar.
Ein Gedicht mit fast durchwegs ganzen Sätzen. Kurze Sätze, leicht zu lesen. Und doch liegen sie schwer auf. Mit Blick auf das Klosterinnere, das sie beschreiben, könnte man sie mit Zellen vergleichen, engen Zellen, die sich aneinanderreihen. Zu Beginn ist von Mauern die Rede, das Kloster ist gut geschützt, die Verlockung der Ferne – das Meer – ist weit weg, und der Nebel tut ein Übriges, um diesen Ort als den verlassensten und einsamsten der Welt erscheinen zu lassen, ein «norddeutscher» Nebel notabene, den man sich nicht anders als dicht, düster und ernst vorstellen kann.
Im Innern dieser abgeschotteten Wabenkultur verbringt die Frau, von der erzählt wird, ihre Tage als «Mädchen», wie es im Titel heisst. Warum sie im Kloster ist, darüber lässt sich das Gedicht nicht aus, ob als Novizin oder als Internatsschülerin, aber eines wird deutlich, froh wird sie hier nicht: Die Gänge, die ihre Tage «durchkreuzten», erinnern an die Passionsgeschichte; das Gebet, in der christlichen Vorstellung der heisse Draht zum Ort des Heils, ist ihr eine Folter.
Doch das Gedicht endet nicht zwischen mönchischen Gewändern. Es beginnt auch nicht damit. Der Titel und die letzte Zeile stehen gleichsam ausserhalb der Klostermauern. Sie nehmen Bezug auf ein irdisches Jenseits, das unerreichbar fern erscheint, obwohl es sich ganz in der Nähe befand, »in den Dörfern». Dort «brannte Haar». Dort, so ist unschwer zu deuten, lodert die Lebenslust, dort wehen die Haare ohne Häubchen durch die Tanzlokale. Man könnte sich ausgehend von dem Bild vom «brennenden Mädchen» eine Liebesgeschichte ausmalen: im Kloster verzehrt sich eine junge Frau nach dem rothaarigen Jungen, der in den nahen Dörfern herumzieht und sich amüsiert.
Ein Feuer, das Mauern überspringt
Das im Gedicht angelegte Drama ist bei genauerem Hinsehen viel einfacher. Das Verb brennen kommt zweimal vor, mit je einem andern Subjekt. Am Schluss brennt Haar, das Haar der Verlockung, der Vitalität, des Vergnügens. Der Titel aber spricht vom brennenden Mädchen, das später im Pronomen «sie» als im Kloster Eingesperrte wiederkehrt. Die Feuermetaphorik bezieht sich auf deren Sehnsucht und Begierde. Das Brennen in den Dörfern hat das Brennen im Mädchen wachgerufen, mitten im Kloster hat das säkulare Feuer einen Ableger platziert. Zwar stehen nicht Kirche und Gewänder in Flammen, aber doch eine der Insassinnen: Die Geschichte kann nicht gut ausgehen. Oder doch? Sie ist in der Vergangenheit geschrieben, das Mädchen ist frei gekommen und inmitten der brennenden Haare der Gleichaltrigen glücklich geworden. Das steht nicht im Gedicht, aber im Märchen, das der Titel verspricht und das jeder und jede selber fertig erzählen darf.
Nora Bossong, 1982 in Bremen geboren, studierte Literatur am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig sowie Kulturwissenschaft, Philosophie und Komparatistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität Potsdam und der Università La Sapienza in Rom. Neben Prosa verfasst sie Lyrik, zwei Bände sind bisher erschienen, in deren letztem das Gedicht steht: «Sommer vor den Mauern», Hanser Verlag 2011. Nora Bossong lebt in Berlin.