Das 75. Wochengedicht führt uns vor Augen, dass das Erkennen von Licht auch bedeuten kann, das Licht zu löschen. Das passt: Denn mit dieser Folge beschliessen wir diesen Blog.
gewahrt im Fensterviereck
die Tiefe der Sternennacht.
Auf das Gedicht wurde ich bei einem Vortrag aufmerksam. Die Referentin trug es vor, um einem bestimmten Gedanken Ausdruck zu geben, und fügte bei, es stamme von einer japanischen Lyrikerin. In der Pause wurde viel über das Gedicht geredet. Man bewunderte seine Leichtigkeit und Schlichtheit, die Schärfe der Beobachtung. Ich fragte die Referentin nach dem Namen der Verfasserin, erfuhr aber nur, dass die Verse aus einem längst vergriffenen Bändchen stammten. Ein Geheimtipp offenbar.
Im Internet war nur ein einziger Titel dieser Autorin zu finden: «Gelöstes Haar», erschienen 1964 im S. Fischer Verlag. Der deutsche Schriftsteller Manfred Hausmann hatte es herausgegeben. Ich bestellte das Buch mit Mausklick. Als ich es später in der Hand hielt, begann ich sogleich zu lesen, doch ausser dem mir bekannten Gedicht gefielen mir die wenigsten. Viele klangen schön, ohne jedoch präzis zu sein, oder aber sie gaben ihre Wahrheit allzu rasch preis. Dennoch lag in ihnen jene anmutige Bescheidenheit, wie sie östlicher Dichtung eigen ist.
75 Wochengedichte
Klassiker und Newcomer, Dadaisten und Rapper hat uns Rudolf Bussmann in den vergangenen 18 Monaten in diesem Blog nähergebracht. Jeden Montag kredenzte er uns eine Prise Lyrik, ordnete diese ein, lotste uns auf mögliche Interpretationsfährten, klug und bedacht, voller Respekt für die Werke und ihre Autorinnen und Autoren. Dafür möchten wir ihm herzlich danken – und Sie, liebe Leserin und lieber Leser, darauf hinweisen, dass Sie alle 75 Folgen des «Wochengedichts» weiterhin nachlesen können.
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Rudolf Bussmann können Sie auch live erleben: Am 26. September feiert er mit seinem neuen Buch «Popcorn. Texte für den kleinen Hunger» Vernissage im Literaturhaus Basel.
Marc Krebs
Über Toyotoma Tsuno verriet das kurze Nachwort nicht viel mehr, als dass die Dichterin in Hokkaido geboren wurde, durch Heirat nach Paris gelangte und dort 1928 im Alter von 32 Jahren an Tuberkulose verstarb. Ich wurde umso neugieriger.
Wer ist Toyotoma Tsuno?
Wieder half das Internet weiter. Offenbar hatte das Schicksal der jungen Japanerin auch die Aufmerksamkeit anderer auf sich gezogen. Einer von ihnen, Udo Wenzel, hatte es genauer wissen wollen. Wenzel war aufgefallen, dass der Name Toyotoma Tsuno auch unter Japanologen unbekannt war. Seine Recherchen beim damaligen Lektor des S. Fischer Verlags und bei Manfred Hausmanns Tochter ergaben, dass Toyotoma Tsuno in Wirklichkeit nie existiert hat. Sie war ein Pseudonym von Manfred Hausmann, die Gedichte stammen ausnahmslos von diesem Autor, der von 1898 bis 1986 lebte und neben Romanen, Erzählungen, Essays und Gedichten auch Feuilletons schrieb und Laienprediger war. Tatsächlich führt Gelöstes Haar Manfred Hausmann weder als Übersetzer noch als Herausgeber an, sein Name steht unverfänglich über dem Titel und der Angabe «Japanische Gedichte von Toyotoma Tsuno».
Was ich von einem Gedicht halten soll, das weder aus der japanischen Tradition heraus entstanden ist noch von einer jungen Frau stammt, sondern schlicht ein Fake ist? Ist es wertlos? Gefällt es mir jetzt nicht mehr? Das Gedicht, ich gesteh es, hat seinen Charme bewahrt. Wenn ich abends das Licht lösche und vor dem Fenster die nächtliche Welt aufgeht, denke ich oft an seine schlichten Worte. Ich verstehe, weshalb ich andere Gedichte des Bandes forciert fand – in ihnen schimmert der didaktische Impetus des deutschen Nachahmers durch. Doch dieses eine öffnet die Augen dafür, dass das Erkennen von Licht auch bedeuten kann, das Licht zu löschen. Ich bin froh es zu kennen, auch wenn seine Wahrheit auf dem Weg einer Täuschung zu mir kam.