Wochengedicht #9: Ulrike Almut Sandig

In dieser Rubrik stellt Rudolf Bussmann jede Woche Lyrik vor. Heute beschäftigt er sich mit einem Gedicht der Leipziger Autorin Ulrike Almut Sandig. (Bild: Tanja Kernweiss) Gespräch mit Ken Taurus von Cumuluswolken stamme er absagte er mir und meinte es nicht symbolisch. er sei halb Mensch undhalb Pferd, nicht Fisch und nicht Fleisch nichts Halbes, […]

In dieser Rubrik stellt Rudolf Bussmann jede Woche Lyrik vor. Heute beschäftigt er sich mit einem Gedicht der Leipziger Autorin Ulrike Almut Sandig.

(Bild: Tanja Kernweiss)

Gespräch mit Ken Taurus

von Cumuluswolken stamme er ab
sagte er mir und meinte es nicht

symbolisch. er sei halb Mensch und
halb Pferd, nicht Fisch und nicht Fleisch

nichts Halbes, nichts Ganzes, und ehrlich
gesagt, er wär zu gern ein Andrer

als er, zu gern wär er weniger zornig
und völlig enthaart, mehr Ixion

und weniger lüstern, oder wäre er
doch lieber Rappe als Recke, lieber

Hengst als Mann, lieber Tier als Krieger-
geschlecht, er könne sich nicht recht

entscheiden – an genau dieser Stelle
verlor er den Faden. wir standen

uns gegenüber. ich fragte nicht nach.
er hat mit den Hufen gescharrt.

ich stand noch lange und starrte
ihm nach, bis er mit wehendem Schweif

im Dickicht verschwand. seine Hufe
liessen tiefe Serifen im Boden zurück.

Ein tragisches Wesen, dieser Ken, dem die zwei Seelen nicht in der Brust sitzen, sondern in zwei Leibern. Er sehnt sich fort aus diesem geteilten Sein. Zuerst spricht er davon, dass er ganz Mensch sein möchte wie sein Vater, doch unterbricht er sich mitten in der Zeile, vielleicht weil ihm in den Sinn kommt, dass dieser sich zum Vorbild nicht unbedingt eignet: Ixion, König der Lapither in Thessalien, tötete seinen Schwiegervater, der ihm nichts zuleide getan hatte. Später missbrauchte er Zeus’ Gastfreundschaft, indem er sich an dessen Gattin Hera heranmachte. Er schwängerte sie, bemerkte im Weinrausch aber nicht, dass Zeus ihm eine Wolke als Geliebte untergeschoben hatte. Mit dieser zeugte er Kentauros, einen Zwitter, halb Krieger und halb Pferd.

Dem Ken des Gedichts erscheint das ungeteilte Dasein eines Hengstes dann doch attraktiver als das eines Mörders, er beginnt von sich als einem friedlichen Tier zu träumen. Sein Monolog bricht zum zweiten Mal ab, als er sich ausserstande sieht, sich zwischen Mensch und Tier zu entscheiden. Diesmal ist der Abbruch definitiv. Es kommt zu keinem Gespräch mit seinem Gegenüber, zu keiner Annäherung an die, die ihm zuhört. Der Zentaur fragt nichts, holt keinen Rat ein. Sein Scharren mit den Hufen bleibt vieldeutig, verrät Unruhe oder Unzufriedenheit. Es unterstreicht seine Ausweglosigkeit: Als Mensch drückt er sich verbal aus, als Pferd durch die Körpersprache. Es gibt kein Drittes, keine Sprache der Ganzheit.

Ken, ein Tier?

Was Ken Taurus sage, meine er nicht symbolisch, bemerkt die Erzählerin. Wie denn meint er es – mythologisch? Wenn er auch keinen Zweifel an seiner Herkunft aus der griechischen Sagenwelt lässt, so bleibt diese doch im Hintergrund. Es geht nicht darum, die bekannte Geschichte wiederzugeben oder weiterzuspinnen. Der Titel spielt auf Kentauros an, gibt dessen Namen aber in bürgerlicher Form wieder. Zweigeteilt in Name und Vorname. Was Ken darlegt, meint er weder symbolisch noch mythologisch, er spricht von einem realen Problem, seinem Gespaltensein in ein friedlich-zivilisiertes und ein aggressiv-unbeherrschtes Wesen. In der Krassheit, mit der sie in ihm aufeinandertreffen, machen ihn die Gegensätze ratlos. Es ist die Ratlosigkeit dessen, der seine Widersprüche erkennt und ihnen gleichzeitig ausgeliefert ist. Eine Ratlosigkeit, die bisweilen auch Erzieherinnen und Psychiater bei ihrer Arbeit befällt und die all jene kennen, die sich mit den Antagonismen des menschlichen Fortschritts befassen.

Ken, ein Mensch?

Wenn Ken sich ins Dickicht davonmacht, lassen seine Hufe Spuren zurück, «im Boden», wie die letzte Zeile sagt. Aber nicht nur im Erdboden. Sie haben die Formen von Serifen. Der Begriff stammt nicht aus der Zoologie, sondern aus der Typographie, er bezeichnet die «Füsschen» an den Buchstaben, mit denen diese auf der Zeile stehen. Der Boden, auf dem Kens Serifen erscheinen, ist auch einer aus Papier, es ist allgemein gesprochen der Boden der Schriftkultur. Kens Auftritt bekommt vor diesem Hintergrund eine ganz andere Dimension. Hier beklagt einer nicht nur sein individuelles Schicksal, sondern auch das der Gesellschaft, der er angehört.

Barbie und Gewehre

Die Anklage ist seinem Namen eingeschrieben. Dieser enthält zwei Worte, die nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun haben und beide dennoch die Auswüchse ein und derselben fehlgelaufenen Entwicklung bezeichnen. Der Vorname Ken spielt auf das männliche Pendant von Barbie an, auf ein unschuldig-naives Jüngelchen ohne Ecken und Kanten, Prototyp einer heilen Scheinwelt. Der Nachname auf einen international bekannten Konzern, den Waffenhersteller Taurus. Im Gegensatz zum sagenhaften Kentauros klafft zwischen den beiden Komponenten des Namens eine Lücke. Die Mitte markiert einen Bruch, vor dem die Sehnsucht des Zentaurs nach Ganzheit keine Chance hat. Sie muss kapitulieren.

Ulrike Almut Sandig, 1979 geboren, wuchs in Nauwalde (D, Sachsen) auf. Heute lebt sie in Leipzig. Die Erzählerin, Hörspielautorin und Dichterin wurde mit mehreren Stipendien und Preisen ausgezeichnet. Bisher hat sie drei Gedichtbände geschrieben, der letzte heisst «Dickicht» und ist 2011 im Verlag Schöffling erschienen. Daraus stammt auch unser Wochengedicht.

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