Tetyana Polt-Lutsenko führt verschollen geglaubte mittelalterliche Gesänge aus Basels Klöstern auf.
Der Lauf der Geschichte ist mitunter gnadenlos: Handschriften, die im Mittelalter in den Klöstern in Hunderten von Stunden mit Texten und Melodien beschrieben wurden, waren mit einem Schlag wertlos. Grund war die Reformation: Die katholische Liturgie wurde abgeschafft; die Manuskripte, die all die Gesänge bewahren sollten, brauchte niemand mehr. Dass sie nicht vollständig verloren gingen, verdankt sich einem simplen Umstand: Die meisten Codices bestanden aus Pergament, und für diesen wertvollen Rohstoff hatte man weiter Verwendung. Buchbinder nutzten ihn als stabilisierenden Umschlag für neue Bücher.
Heute liegen im Basler Staatsarchiv etliche solcher Bücher; viele sind mit Musikhandschriften eingebunden. Dass man diese Musik nun wieder hören kann, ist einer Reihe glücklicher Zufälle zu verdanken – und dem Enthusiasmus unter anderem von Frank Labhardt. In den 1980er-Jahren verbrachte der Musikwissenschaftler jede freie Minute, die ihm sein Geschäft für medizinisches Zubehör und seine siebenköpfige Familie liessen, im Staatsarchiv. 829 Fragmente mit Noten aus verschiedenen Jahrhunderten entdeckte und katalogisierte er. Doch diese mühselige Arbeit dauerte lang; zu einer Publikation seiner Forschung kam Labhardt nicht mehr.
Beinahe wäre seine Arbeit in Vergessenheit geraten, hätte sich nicht Tetyana Polt-Lutsenko eines Tages gefragt: Was wurde in Basels Klöstern eigentlich vor der Reformation gesungen? Die Sängerin stiess über Umwege auf Labhardts Arbeit, die unkatalogisiert im Staatsarchiv schlummerte. Fasziniert untersuchte sie die Fragmente: «Manche enthalten nur ein paar Notenzeilen, andere vollständige Stücke, die ich sofort nachsingen kann», sagt Polt-Lutsenko. Sie hat grossen Respekt vor Labhardts Arbeit: «Damals ohne Hilfe eines Computers ein Stück zu identifizieren, war äusserst schwierig, besonders wenn dem Gesang Anfang und Ende fehlen.» Heute ist es wesentlich leichter: «Im Internet kann ich die Texte und Melodien mit digitalisierten Manuskripten vergleichen und ergänzen. Doch bei manchen Bruchstücken musste ich sehr lange suchen – meist bei den seltenen, besonders schönen Gesängen.»
Während Polt-Lutsenko im Staatsarchiv forschte, wurde sie immer wieder gefragt: «Wie klingt denn das? Können Sie uns das kurz vorsingen?» So entstand die Idee, in den jeweiligen Basler Klöstern die Musik aus der Zeit vor der Reformation wieder-aufzuführen. Am Samstag ist die St.-Alban-Kirche an der Reihe: Im Rahmen des Europäischen Tags des Denkmals in der St.-Alban-Vorstadt, veranstaltet von der Kantonalen Denkmalpflege Basel-Stadt, singt das A-cappella-Vokalensemble Slowo mit Tetyana Polt-Lutsenko wiederentdeckte Gesänge aus dem St.-Alban-Kloster nebst neuzeitlichen Chorälen der orthodoxen Liturgie – jener Musik, die heute in der St.-Alban-Kirche zu Hause ist.
- Basel, St.-Alban-Kirche: Samstag, 8. September 2012, 17 Uhr. www.denkmalpflege.bs.ch
Tetyana Polt-Lutsenko singt alte Gesänge aus dem Staatsarchiv.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.09.12