Es sei kein hochkarätiger Wettbewerbs-Jahrgang gewesen, unkte die Kritikergilde an der diesjährigen Berlinale. Aber, darin ist man sich einig: Das Festival als Ganzes bot einen hochspannenden Überblick über die Trends am Welt-Markt. Unter den 2500 Filmvorführungen haben viele starke Gefühle provoziert.
Es sei kein hochkarätiger Wettbewerbs-Jahrgang gewesen, unkte die Kritikergilde an der diesjährigen Berlinale. Aber, darin ist man sich einig: Das Festival als Ganzes bot einen hochspannenden Überblick über die Trends am Welt-Markt. Unter den 2500 Filmvorführungen haben viele starke Gefühle provoziert. Darunter der polnische «Baby Blues».
Eindrücklich hat sich die Jugend zu Wort gemeldet. Die Generation, deren Eltern kaum erwachsener sind, als ihre Kinder, setzte ein gewichtiges Thema. Im polnischen Film «Baby Blues» gelang dies wohl am aufwühlendsten. Aber auch in «Das Merkwürdige Kätzchen» des Schweizers Ramon Zürcher wird von jungen Menschen über den Generationenvertrag nachgedacht, formal hochspannend und auf merkwürdige Art unterkühlt. Hinreissend reif ist gar «Kashi Ggot», der uns in eine zutiefst christliche Jugendgruppe in Korea entführt. Dort braut sich in einem Jungen, der an einer Massenvergewaltigung teilgenommen hat, ein geradezu unheimliches Sühneszenario zusammen.
Auch dass Jugendliche ins Alter kommen, hat interessiert. «Frances Ha» ist eine wahrhaftige Traumtänzerin. Tänzerin auf dem einen Bein, Träumerin auf dem anderen, ist sie noch viel zu unerwachsen für ihr Alter. Aber wer ist heute schon mit 27 aus der Pubertät heraus oder gar erwachsen am Ende seiner Träume? Hier, ebenso wie im koreanischen «Nobodys Daughter Haewon», sucht sich eine verunsicherte junge Frau einen Ausweg in die Träume.
Ganz unerbittlich wird der Blick schliesslich auf die egoistische Erziehung der Jugend durch die Erwachsenen gerichtet. Einmal wagt ihn der Österreicher Ulrich Seidl, der mit seinem verstörenden Diätcamp der dicken Mädchen in «Paradies: Hoffnung» eher provozierend denn spannend daherkommt. Noch viel kompromissloser und fordernder stösst uns der Kasache Timur Baigazin vor den Kopf: In seinen «Harmony Lessons» wird die Anatomie eines Verbrechens messerscharf analysiert und filmisch bärenstark erzählt.
Bestechender Aufbruch der reiferen Frauengeneration
Fulminant wie selten, hat sich das dritte Alter zu Wort gemeldet. Gleich drei absolute Spitzenleistungen bringen Endvierziger- und Fünfziger-Frauen. In «Gloria» macht eine unbändige Paulina Garcia (bekannt aus Almadovar-Filmen) Lust auf die Verlängerung der Pubertät bis ins hohe Frauenalter, mit Ärger, Spass und Reife. In «Silvi» geht Lina Wendel einen ähnlichen Weg. Es ist ein bestechender Aufbruch dieser Frauengeneration. Ebenso brilliert Catherine Deneuve in «Elle s’en va». Darin geht die Grande Dame des Französischen Kinos buchstäblich mal «rasch Zigaretten holen», was bislang immer Männern vorbehalten schien.
Homosexualität unter Priestern
Im Wettbewerb sind von den spannendsten Tendenzen des gesamten Festival wie immer nur einzelne Ausschnitte zu sehen, und nicht immer die Glanzlichter. Die Jury besteht in diesem Jahr aus Wong Kar Wai, Susanne Bier, Tim Robbins, Shirin Neshat, Athina Rachel Tsangari, Andreas Dresen und Ellen Kuras. Welchem Geist folgt nun diese Truppe? Dem Religiösen? Jetzt wo der Rücktritt des deutschen Papstes in Berlin Hoffnung auf Bewegung in der Kirche macht, da kann ja auch mal über die Homosexualität unter Priestern nachgedacht werden, wie es der polnische Beitrag «W imię…» («In the Name of») tut, der zu den Kronfavoriten gehört.
Oder wird die religiöse Fanatisierung vorgezogen, wie sie in «La Religieuse» oder ansatzweise auch in «Harmony Lessons» diskutiert werden, die ebenfalls zu den Favoriten um einen Bären gehören?
Die Frauen sind in der Jury in der Mehrheit. Kann das den Ausschlag geben für einen der grossartigen Filme, die die Frauen im Dritten Alter im Aufbruch begreifen? In «Gloria» büchst ebenso eine Frau aus, wie in «Elle s’en va». An zwei bärenstarken Frauen der europäischen Filmszene wird man nicht leicht vorbeikommen.
Aber auch cineastische Kunstwerke wie «Vic and Flo ont vu un ours», «Harmony Lessons» und «Paradies: Hoffnung» könnten in der Jury Anklang finden. Das Angebot an politischer Motivation, die man in Berlin immer wieder gerne betont, ist reich: Aus dem Iran kommt ein stiller Schrei von Jafar Panahi: «Closed Curtain». Aus Bosnien die beklemmende «Episode in the Life of an Iron Picker» von Danis Tanovic. Der rumänische Spielfilm «Childs Pose» ist ebenfalls mehr als ein Psychogramm einer symbiotischen Mutter-Sohn-Beziehung. Der Regisseur Călin Peter Netzer setzt detailverliebt die moderne Form der «Vetterliwirtschaft» ins Bild. Er zeigt dorthin, wo Korruption funktioniert: Überall, wo Macht über Vernunft steht.
Kaum zu erwarten ist, dass die Jury eine der Mainstream-Arbeiten belohnen wird, etwa «Side Effects» von Steven Soderbergh oder «The necessary Death of Charlie Countryman» von Frederik Bond. Schliesslich versteht sich Berlin immer noch als ein politisch orientiertes Festival, auch wenn davon, in all dem Glamour und Marktglanz, kaum etwas zu spüren war.