Zahlendiktat statt politischem Aktivismus: Das läuft in der gewerkschaftlichen Arbeit schief

Der ehemalige Gewerkschafter Hanspeter Gysin nahm unsere Berichterstattung zum Unia-internen Konflikt zum Anlass für eine Fundamentalkritik der modernen, stark professionalisierten Gewerkschaft. Der TagesWoche-Leser und ehemalige Gewerkschafter Hanspeter Gysin nahm unsere Berichterstattung zum Unia-internen Konflikt zum Anlass einer Fundamentalkritik an den modernen, professionalisierten Gewerkschaften. Sein Beitrag: Anlässlich von gewerkschaftsinternen Personalkonflikten, die hin und wieder öffentlich ausgetragen […]

Der ehemalige Gewerkschafter Hanspeter Gysin nahm unsere Berichterstattung zum Unia-internen Konflikt zum Anlass für eine Fundamentalkritik der modernen, stark professionalisierten Gewerkschaft.

Der TagesWoche-Leser und ehemalige Gewerkschafter Hanspeter Gysin nahm unsere Berichterstattung zum Unia-internen Konflikt zum Anlass einer Fundamentalkritik an den modernen, professionalisierten Gewerkschaften. Sein Beitrag:

Anlässlich von gewerkschaftsinternen Personalkonflikten, die hin und wieder öffentlich ausgetragen werden, fällt mir als altem Gewerkschafter und Kenner der Strukturen immer wieder etwas auf: Wie die Besonderheiten eines gewerkschaftlichen Apparates, was das Verhältnis zu seinen eigenen Angestellten anbelangt, unbeachtet bleiben.

Im Grunde ist die heutige Gewerkschaft ja ein Zwitterding zwischen einer politischen Bewegung, die für Rechte kämpft und einer Versicherungsgesellschaft, welche die Dienstleistung «Sicherheit» verkauft. Innerhalb eines solchen Apparates sind die Vorgesetzten auf der einen Seite KollegInnen, mit denen man gelegentlich in Reih und Glied für bessere Arbeitsbedingungen in den Betrieben von Staat und Wirtschaft eintritt. Gleichzeitig sind sie im professionell-hierarchischen Betrieb jedoch Chefs mit Weisungsrechten gegenüber ihren Untergebenen.

Im Speaker’s Corner publiziert die TagesWoche ausgewählte Texte und Bilder von Community-Mitgliedern. Vorschläge gerne an community@tageswoche.ch.

Dazu kommt, dass die Gewerkschaft ein formaler Verein ist, der einerseits über Statuten verfügt, die ein demokratisches Funktionieren bestimmen, andererseits aber von einer durch und durch professionalisierten Direktion geführt wird. Diese wiederum hat die Angewohnheit angenommen, die Basis, von der sie einmal gewählt wurde, ziemlich selektiv und ganz im Sinne der Durchsetzung der in den Chefetagen entwickelten politischen Konzepte zu informieren.

Gewerkschaftskader direkt ab Hochschule

Das ist auch der Grund dafür, dass in aller Regel bei Gewerkschaftswahlen keine AlternativkandidatInnen zu den von der Direktion gewünschten zur Verfügung stehen. Auch werden eigenständige politische Konzepte kaum je von der Basis vorgeschlagen. Verschärfend kommt hinzu, dass die Kader der Gewerkschaft kaum mehr, wie zu früheren Zeiten, aus den jeweiligen Berufen kommen und eine Ahnung davon haben, wie sich die Situation von Lohnabhängigen in körperlich anspruchsvollen oder stressbelastenden Berufen anfühlt.

Vielfach werden GewerkschaftssekretärInnen heute direkt ab der Universität oder Hochschule engagiert und leider nur allzu oft ohne entsprechende fachliche Einführung auf Mitgliederwerbung geschickt. Mit wachsender Grösse und Komplexität der Aufgaben wurden ausserdem von den Gewerkschaftsleitungen zunehmend Managementmethoden, telquel von der (heute neoliberal geprägten) Privatwirtschaft übernommen. Diese mögen Schmiermittel für das reibungslose Funktionieren des Apparates sein, dem Gedanken der Transparenz und des demokratischen Funktionierens sind sie vollkommen entgegengesetzt.

Die Kader der Gewerkschaft kommen kaum mehr aus den jeweiligen Berufen, die sie eigentlich vertreten.

In einer Gewerkschaft steigen oft diejenigen Leute auf, die emotionales, manchmal aufopferndes Engagement an den Tag legen. Dieser Enthusiasmus, Gutes tun zu wollen, kann die Sinne trüben. Diese Leute wollen dann oft nicht wahrhaben, dass lohnabhängige Angestellte manchmal nicht im selben Masse Selbstausbeutung betreiben möchten wie sie. Auch der Umgang mit Subalternen, die nicht alle ihre (politischen) Wertvorstellungen teilen, lässt unter diesen Umständen in vielen Fällen zu wünschen übrig.

Nach Aussen muss also die Einhaltung guter Arbeitsbedingungen eingefordert werden, die im Inneren einzuhalten oft schwerfällt. Dieser Widerspruch kommt bei NGOs mit sozialem Anliegen öfter vor.

Mangelhafte Schulung der Gewerkschaftssekretäre

Eine weitere Rolle spielt die interne gewerkschaftliche Schulung. Findet eine solche überhaupt statt, bezieht sie sich in erster Linie auf das Marketing zum Zweck der Gewinnung neuer zahlender Mitglieder. Eine politische, vertiefende Weiterbildung wird von den gewerkschaftseigenen Bildungsinstituten keine angeboten. So konzentriert sich das Geschäftskonzept darauf, durch Mitgliederzuwachs immer mehr Geld für zentral besteuerte Kampagnen zu akquirieren, die dann von bezahltem Personal durchgeführt werden.

Die Eigeninitiative der Basismitglieder wird dabei durch eine Dienstleistung ersetzt. Gleichzeitig geht der Gedanke der Solidarität verloren. Unter all diesen Umständen wird nicht belohnt, wer in der Lage ist die aktivste Basisgruppe in einem Betrieb und seinem Umfeld aufzubauen, sondern, wer die (leichter messbaren) grössten Werbeerfolge aufweisen kann.

Schwebt Mitarbeitern eine andere Gewerkschaftspolitik vor, bleibt ihnen nur, leer zu schlucken oder zu gehen. Dies alles ist zudem die Ursache für eine überdurchschnittliche Personalfluktuation, die sehr kostspielig ist.

Die Eigeninitiative der Basismitglieder wird durch eine eingekaufte Dienstleistung ersetzt.

Eine Möglichkeit für eine Entwicklung zurück zum Bewegungsgedanken sehe ich nur darin, die Gewerkschaft zu enthierarchisieren. Ausserdem müssen der bezahlenden Basis, wie auch den Gewerkschaftsangestellten, die vom Lohn abhängen, im offenen Dialog die gebührlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten zurückgegeben werden. Dass es dazu einer ständigen, atemlosen Jagd nach mehr und mehr (passiven) Mitgliedern bedarf, widerspricht für mich dem Postulat einer Basisbewegung, die für Rechte kämpft.

Doch, bei aller Kritik, die Gewerkschaft ist und bleibt unverzichtbar als Gegenpol zum Kapital, welches unser ganzes gesellschaftliches Leben dominiert, auch wenn man sich eine bessere wünschen würde.

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Hanspeter Gysin war von 1997 bis 2007, bis zu seiner Pensionierung, Mitarbeiter der GBI/Unia und in dieser ganzen Zeit Präsident der vom Gewerkschaftspersonal gewählten Personalkommission.

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