Zahlreiche Ukrainer haben in Kiew der fast hundert 100 Toten gedacht, die bei den pro-europäischen Massenprotesten vor einem Jahr erschossen worden waren. Viele verharrten weinend und sich bekreuzigend vor den Fotos der Toten.
Auf dem zentralen Maidan-Platz gab es am Freitag eine Andacht, vor einem Denkmal sangen etwa 100 Menschen patriotische Lieder im Gedenken an die «himmlischen Hundert» genannten Toten. In die Trauer mischte sich Wut darüber, dass auch ein Jahr nach der Gewalteskalation die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind.
Die tödlichen Schüsse sollen Sicherheitskräfte des damals noch amtierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch abgefeuert haben, aber auch gewaltbereite Demonstranten selbst gerieten in den Verdacht. Nur zwei einfache Bereitschaftspolizisten sind angeklagt und warten auf ihren Prozess.
Von dem mit internationalem Haftbefehl gesuchten Janukowitsch fehlt jede Spur. Angeblich soll er im russischen Badeort Sotschi untergetaucht sein. Die russischen Behörden äussern sich offiziell aber nicht dazu.
Beweise verschwinden
«Ein Jahr ist vorüber, und noch immer ist niemand bestraft», sagte Jaroslaw Selenko, ein 57-jähriger Geschäftsmann. «Und die Beweise verschwinden oder werden zerstört.» Die Familien der Getöteten konzentrierten sich bei einer Pressekonferenz auf das Gedenken. «Das Herz meines Vaters schmerzte für die Ukraine», sagte Wolodymyr, Bondarschuk. «Für uns ist es wichtig, dass sein Opfer nicht vergebens war». Am Sonntag gedenkt Präsident Petro Poroschenko in Kiew mit ausländischen Gästen der Maidan-Proteste.
Die Eskalation der Gewalt nach den monatelangen Protesten führte schliesslich zum Sturz Janukowitschs. Doch der Machtwechsel in Kiew brachte dem Land keine Ruhe, den Kämpfen zwischen Regierungstruppen und prorussischen Separatisten im Osten fielen inzwischen mehr als 5000 Menschen zum Opfer.
Auch die jüngste vereinbarte Waffenruhe brachte keine Beruhigung. Das ukrainische Militär und die prorussischen Separatisten nehmen sich in der Ostukraine weiter stark unter Feuer. Im Konfliktgebiet habe es innerhalb von 24 Stunden rund 50 Verstösse gegen die Kampfpause gegeben, teilte die Militärführung in Kiew am Freitag mit. Auch die Aufständischen warfen den Regierungstruppen Dutzende Angriffe vor.
Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bestätigten, dass sie am Donnerstag mehrfache Artilleriesalven in der Separatistenhochburg Donezk gehört hätten. Bei Beschuss sei eine Frau getötet worden, teilte der Stadtrat mit.
Wieder russischer Konvoi
Nach dem Rückzug der ukrainischen Soldaten aus dem Verkehrsknotenpunkt Debalzewo kündigten die Separatisten an, sie seien zu einem Gefangenenaustausch in den kommenden Tagen bereit.
Zur Versorgung der notleidenden Menschen unter anderem in Debalzewo schickte Russland erneut einen seiner umstrittenen Konvois mit Hilfsgütern ins Konfliktgebiet. Nach Angaben des Zivilschutzes überquerten 30 Lastwagen mit insgesamt rund 200 Tonnen Hilfsmitteln die Grenze. Frühere Lastwagenkolonnen waren deutlich grösser.
Die Ukraine kritisiert die Lieferungen als Verletzung ihrer Souveränität und befürchtet, dass Russland den Separatisten Waffen liefern könnte.