Historische Ereignisse werden für uns erst Wirklichkeit, wenn wir uns davon ein Bild machen können: Was wäre Sempach ohne den Winkelried? Was St.Jakob ohne den Steinwurf? Was die US-Armee ohne die US-Filmindustrie?
Kathryn Bigelow – immerhin eine Oscar-Gewinnerin – schildert die Informationsbeschaffung einer Demokratie, die sich verteidigt, in ZERO DARK THIRTY so: Für Minuten wird das Gesicht eines Mannes zerquetscht. Faustschläge. Fusstritte. Knüppeldick geschwollene Lippen. Ist das ein Mund, der sich bewegt, oder nur eine offene Wunde? Dabei wird der Mann unter Wasser gesetzt, an Seile gehängt, am Hundehalsband geführt. Er erhält eine Lektion in US-Verhörtechnik: «Wer lange genug geprügelt wird, legt endlich ein Geständnis ab, das genügend Grund liefert, ihn zu verprügeln». So holt man in ZERO DARK THIRTY jene Informationen, die einen Krieg beenden sollen. Oder den nächsten verursachen?
Die Al Khaida hatte zur besten Sendezeit 2001 unzählige Stunden lang der Welt bewiesen dass Krieg auch ohne Einkauf bei der Waffenindustrie geht. Dagegen waren die lumpigen Sekunden News-Prime-Time 2011, die die Hinrichtung Osamas hergab, bloss ein Pups. Das will ZERO DARK THIRTY jetzt ändern, indem das Zustandekommen der Hinrichtung Osamas jetzt lange und ausführlich dargestellt wird. Als Sieg. Allerdings nicht als Sieg der Menschlichkeit. Sondern als Sieg jener Logik, die wir in den ersten Minuten begriffen haben sollten: Jeder Angriff verkauft sich besser als Verteidigung getarnt.
Die Geschichte wird immer von Siegern geschrieben. Neu ist, dass Hollywood darin immer häufiger der US-Armee zu Hilfe eilt, und es zu seinen noblen Aufgaben zählt, zu den Kriegen, die Amerika führt, die Geschichten, die Geschichte schreiben sollen, zu präsentieren. Die Hinrichtung Bin Ladens ist so eine Geschichte.
Wer sich während der ersten zehn Minuten in ZERO DARK THIRTY wundern will, warum es immer neue Selbstmordattentäter gibt, käme spätestens nach der Folterszene mit seinem Demokratieverständnis ins Grübeln, sollte er vergessen haben: Es geht ja um Krieg. Und wenn die selbsterklärte Pazifistin Kathryn Bigelow gegen den Krieg argumentiert, tut sie es, indem sie uns erst die Notwendigkeit von Krieg vor Augen führt, und anschliessend uns lange genug fiebern lässt, dass wir ihn auch gewinnen.
Über zweieinhalbe Stunden holt ZERO DARK THIRTY in brillanter Thriller-Manier nach, was, damals nahezu geheim über die Bildschirme gehen musste, weil sonst die Aktion gefährdet worden wäre. Die Hinrichtung Osama bin Ladens. Damals durften wir höchstens in Tagessschaukürze mitverfolgen, was da abging: Unvergessen Hillarys auf den Mund gepresste Hand, ihre geweiteten Augen, als sie die Vorgänge in Pakistan mitverfolgen wollte, während Obama Osamas Hinrichtung mit zusammengepressten Lippen und aufgestützten Ellebogen zur Kenntnis nahm.
Jetzt dürfen auch wir ausführlich hingucken – mit auf den Mund gepresster Hand: ZERO DARK THIRTY malt uns jetzt spannend aus, was damals die beiden wohl sahen. 157 Minuten dauert es, bis wir die Amerikanische Version gesichtet haben. Zum Schluss dürfen wir in Egoshooter-Manier durch Osamas Villa spurten, Kinder beiseite drängen und Frauen mund- oder ganz tot machen. Ein echter Abknaller!
Das Sieglein über Bin Laden wird in ZERO DARK THIRTY zum Triumph stilisiert. Zwar wurde damit kein Krieg beendet, aber zumindest wurde im Nachhinein dessen Begründung glaubhaft gemacht. Osama war also doch kein Propaganda-Phantom.
Die Regisseurin Kathryn Bigelow («The Hurt Locker») hat sich kurz von den Oscar-Wahlen als zwiespältige Patriotin empfohlen. Als Denkerin ist sie uns zwar schon bei Hurt Locker nicht aufgefallen. Aber als Provokateurin hat sie es wiederum geschafft: Diesmal liefert sie Argumente gegen die Foltermethoden der US, indem sie zeigt, dass es ohne nicht geht. Sie denkt damit bloss den US-Pazifismus zu Ende. Gemäss dessen Maxime kann Menschlichkeit nur beschützt werden, indem sie mit Unmenschlichkeit durchgesetzt wird. So würde es die US-Waffenindustrie demnächst auch im eigenen Land gerne praktizieren: Spätestens wenn auf den amerikanischen Schulhöfen die ersten bewaffneten Truppen patroullieren, wird die US-Friedensdoktrin auch im Landesinnern zu Ende gedacht.