Die Ostküste von Lesbos ist übersät mit Gummibooten – Zeugnisse der rund 5000 Flüchtlinge die die Insel seit Jahresbeginn auf diese Art erreicht haben.
Ein weiteres Gummiboot, aufgeschlitzt, wie die anderen zuvor. Dieses hier ist kleiner. Daneben liegt eine schwarze Schwimmweste. Das erste Boot fand ich etwa drei Kilometer südlich von Mytilini. Dann alle paar hundert Meter wieder eines. Alle sind nur knapp aus dem Wasser gezogen und aufgeschlitzt an der Küste von Lesbos zurückgelassen worden.
Ein aufgeschnittenes Gummiboot an der Küste von Lesbos. (Bild: Simon Krieger)
«Push Back»
Javed muss 2004 weiter nördlich gelandet sein. Wahrscheinlich finden sich entlang der Küste überall Gummiboote. Auch Javed und seine drei Freunde haben ihr Boot aufgeschlitzt. Die Schlepper hätten ihm das angeraten, erzählte er mir. Es ist, oder war, eine gängige Praxis der Küstenwache, die Flüchtlingsbote wieder in das Meer hinaus zu ziehen. «Push back» werden diese Aktionen genannt. Ohne Anhörung der Fluchtgründe, ohne jeglichen Prozess werden die Flüchtlinge in das Meer zurückgedrängt und der türkischen Küstenwache überlassen – ein klarer Verstoss gegen internationales Recht. Diese Praxis, die es offiziell nie gab, sei kürzlich vom zuständigen Minister für beendet erklärt worden. Tatsächlich gab es laut Flüchtlingsorganisationen in Lesbos seither keine solchen Berichte mehr. Von der südlich gelegenen Insel Samos und einigen anderen Orten seien sie zumindest seltener geworden.
Als Javed hier ankam wurden diese Aktionen noch systematisch durchgeführt. In seinem Fall war es sogar vergebens, das Boot zu zerstören. Die vier Jungs wurden an Land aufgegriffen, mit einem Schnellboot der Küstenwache auf eine kleine türkische Insel gebracht und dort ausgesetzt. Die acht lebensgefährlichen Stunden im Gummiboot auf dem offenen Meer waren umsonst.
Schwimmhilfen die von Flüchtlingen an der Küste zurückgelassen wurden (Bild: Simon Krieger)
Gefährlichere Routen
Seit der Fertigstellung des Grenzzaunes in Nordgriechenland am Evros Ende 2012 werden vermehrt die wesentlich gefährlicheren Routen durch die Ägäis genutzt – entsprechend steigt die Zahl der Todesopfer. Lesbos und Samos sind die beliebtesten Ziele. Dieses Jahr hat die Anzahl der Flüchtlinge, die auf Lesbos landen fast um das vierfache zugenommen. Rund 5’000 seit Jahresbeginn. Efi, von village of all together, hat mir das erzählt. Doch die Zeugnisse der Flüchtlingswelle, die hier ankommt, sehe ich selber: Etwa zweihundert Meter weiter finde ich das nächste Boot – eines der grössten bis jetzt.
Die Boote werden meistens von Schleppern bereitgestellt. Nur wenige Flüchtlinge wagen die Überfahrt auf eigene Faust. Die Schlepper steuern die Boote aber nicht selbst durch die Ägäis, da ihnen eine Gefängnisstrafe droht, sollten sie in Griechenland erwischt werden. Stattdessen erklären sie einzelnen Flüchtlingen das Vorgehen und überlassen ihnen die Kontrolle über das Boot. Die fehlende Erfahrung ist sicher ein Grund für die vielen Unfälle: Laut Welcome to Europe gibt es jährlich 150 bis 200 dokumentierte Todesfälle an der Türkisch-Griechischen Grenze.
(Bild: Simon Krieger)
Griechenland ist überfordert
Für die, die Griechenland erreichen, hat sich seit dem Regierungswechsel einiges verbessert: Die langen Haftstrafen wurden abgeschafft und Asylanträge sollen schneller bearbeitet werden. Das ändert jedoch nichts daran, dass das Land mit dem ansteigenden Flüchtlingsstrom masslos überfordert ist. Selbst für viele Griechen ist es schwierig, Arbeit und sogar eine Unterkunft zu finden – für Flüchtlinge ist es oft unmöglich.
Der Ball liegt bei der EU, die Flüchtlinge besser zu verteilen. Diese beharrt aber darauf, dass Griechenland seine Flüchtlinge nicht ausreisen lässt. Ihnen bleibt nur der beschwerliche und teure Weg durch Albanien, die nicht ungefährliche Überfahrt als blinder Passagier einer Fähre oder die Reise mit gefälschten Dokumenten.
Eine legale Möglichkeit zur Weiterreise ist nicht absehbar. Und mit der aktuellen und anhaltenden Situation in Syrien, Irak und Afghanistan werden weiterhin immer neue Boote an der Küste zu finden sein.
Die ungefähre Route von Javeds Flucht aus dem Iran bis nach Griechenland.