In Cannes wurde er bereitsprämiert. Jetzt hat ihn die Jury des Zürich Film Festivals zum Siegerfilm erklärt. Die unbändige Kraft, die Kino entwickeln kann, das Abenteuer nicht erfinden muss, sondern eines ist. «La jaula de oro» ist eine Hymne an das Kino.
Der Film «La jaula de oro» wurde in Cannes bereits in der Reihe «Un certain regard» prämiert. Jetzt hat ihn die Jury des Zürich Film Festivals zum Siegerfilm im internationalen Wettbewerb erklärt. Damit attestiert sie ihm jene unbändige Kraft, die Kino entwickeln kann, das Abenteuer nicht erfinden muss, sondern eines ist: Was da auf der Wand vor uns leuchtet ist die wuchtige Wirklichkeit der Armut – reich bebildert. Gegen die Welle der Armut stemmen sich Repräsentanten des melancholischen Widerstandes: Ein paar entschlossene Kinder auf der Flucht ins gelobte Land.
Eine wuchtige Reise der Hoffnung
In der menschenengen Wellblechgasse könnte fast jeder der Jungs Juan heissen: Fast willkürlich erfasst die Handkamera einen dieser Juans, folgt ihm um die Ecken der Favela, hinter weiteren Juans her. Selbst Sara, die hinter einer Blechtüren verschwindet, um sich die Haare so lange zu schneiden, bis sie wie ein Junge aussieht, tritt schliesslich als ein ‚Juan‘ aus der Wellblechenge.
Die Reise in die erhoffte Zivilisation kann beginnen. Die Guatemaltekischen Jugendliche wollen nach Norden. Los Angeles. Welche Prüfungen sie vor sich haben, wissen sie. Aber das schreckt sie nicht ab: Was vor ihnen liegt, kann schrecklicher nicht werden, als was hinter liegt.
Was der spanische Regisseur Diego Quemada-Diez einst bei Ken Loach als Kamerassistent lernte, macht ihn heute zum Meister: Soziale Authentizität. Ohne Parteinahme für die Schwachen die Schwächen der Menschen entlarven. Das Sein schildern. Nicht das Bewusstsein. An Schauplätzen, die nur kennen kann, wer die Armut kennt. Erbarmunglos Widersprüche stehen lassen. An Unorten filmen, wie sie selbst der beste Setdesigner nicht erfinden könnte.
In jedem Bild steckt mehr Wirklichkeit als in der Wirklichkeit selbst
In seinen erbarmungslosen Bildern, von denen keines gesucht wirkt, lässt Diego Quemada-Diez jetzt die drei Jugendlichen durch das mexikanische Hinterland ziehen. Immer wieder füllen Metallwände, Abfallhalden, Dschungelruinen und elende Pappensiedlungen die Wand vor uns ganz aus. Selbst ein Vogelschwarm über dem verrosteten Geleisekörper eines Abstellbahnhofes scheint auf dem Leinwandhimmel nur vom nahen Abfallhaufen der Favela aufgescheucht worden zu sein.
Es sind Bilder, die nicht loslassen. Wer einfach nur die brilliante Fotografie der postindustriellen Dekadenz geniessen möchte, die Maria Secco gemacht hat, der hätte einen schönen Ausstellungsnachmittag im Trockenen. Doch mit Samuel, Osvaldo und Juan befinden wir uns bald unterwegs auf der verruchten Süd-Nord-Güterroute Südamerikas. Meist auf einem Geleisekörper, der in den letzten Zügen liegt.
Solidarität wächst als Unkraut
Das Trio wächst zeitweise zu einem Quartett, das bald in einem Schwarm von Völkerwanderern untertaucht, die auf der abenteuerlichen Strecke schwarz auf Züge klettern. Diego Quemada-Diez findet in Industrieruinen, Wurzelgeflechten, Abflussrohren und leeren Eisenbahnwagons immer neue Hintergründe der Armut, Abgründe des Wohlstands und Jagdgründe des Überlebenskampfes in die die Jugendlichen geraten.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis etwas Schreckliches geschieht. Das schockierende daran ist nicht die Grausamkeit, mit der es eintritt, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der es begangen wird: Die Polizei raubt den Flüchtlingen erst einmal ihre Habseligkeiten, bevor sie weggekarrt werden. Wenn die Schwarzfahrerinnen von Menschenhändlern vom Zugdach geholt werden, schaut das Polizeikorps weg.
Ein trauriges Kinderlied
Dabei wächst in all den Prüfungen eine Freundschaft, die die Kinder gegenseitig zu Lebensrettern und Humanisten macht: Wie der Indio mitten im Wurzelwerk, das sich durch die Ruine einer Kultstätte drängt, von Sara spanisch lernt, ist von unbändiger Poesie: Liebe, Bildungshunger und Freundschaft in einem einzigen Bild verbunden.
Der Film spart aber auch nicht mit überraschenden Bildern: Nachdem die Züge der Wirklichkeit schon mehrere Brücken überquerten, sehen wir schliesslich einen Traumzug im Schaufenster. Mit den Augen der Kinder: Schnee? Ja, tatsächlich. In der Märklinwelt der Reichen schneit es. Wer da friert, hat nur eine Gänsehaut vor Kunst-Freude. Die Wirklichkeit, die da repräsentiert wird, ist tödlich kalt.
Das unerbittliche Sein bestimmt das Bewusstsein
Die Geschichte von «La jaula de oro» ist erbarmungsloser, als ihre Figuren gezwungen werden, zu sein. Wenn auch Juan seinem misstrauisch beäugten Indio-Freund Chauk das Leben rettet. Vor dem Tod kann er ihn nicht bewahren. Die Geschichte wird in jeder Hinsicht zu Ende gedacht. Ohne das Kitsch aufkommt. Dennoch bleibt die Poesie, wie ein wehmütiges Kinderlied, das über dem letzten Teil der Reise liegt.
«La jaula de oro» ist eben mehr als eine Reise der Hoffnung: Es ist eine Liebesgeschichte. Das Aufbegehren der alten Zivilisation gegen die neue Barbarei ist auch eine Leibeserkärung. «La jaula de oro» erzählt mit jedem Bild die Ankunft in einer wuchtigen Unwirklichkeit. Selbst die Bilder von der Ankunft im gelobten Land wirken bei allem Glück nur als ein rückblickender Kommentar auf das Gemetzel während der Flucht.
Wenn der überlebende Juan zum Schluss eine Schwarzarbeit findet, muss er Berge von Fleischresten in einer Tierfutterfabrik wegschaufeln. Wir sind mit ihm durch fast alle Stationen menschlicher Erniedrigung gegangen und schliesslich dort angelangt, wo er begonnen hatte: Auf einem Abfallhaufen. Immer noch blickt Juan traurig und – ein wenig weniger – zuversichtlich. Immerhin ist er angekommen, wo er hinwollte.