Sie ist vielleicht die grösste Überraschung des diesjährigen Zürich Film Festivals. Petra Volpe stellt einen Zürich-Film vor, der sich mit den Besten messen darf.
Luna Mijovi als Mia im Traumland
Im «Traumland» der italienisch-schweizerischen Regisseurin Petra Volpe glitzert die Stadt. Die Menschen rennen durch den Glanz der Weihnachtsbeleuchtung. Die letzten Vorbereitungen für das Familienfest laufen auf Hochtouren. Paare, Familien und Einsame tragen die letzten Utensilien in die Wohnungen. Wir blicken an wechselnden Schauplätzen in scheinbar unzusammenhängende Familiengeschichten. In Zürich. Ausgerechnet am Weihnachtabend, da alle erdenklichen Anstrengung gemacht werden, eine gute Familie zu sein. Nie ist der Aufwand grösser die kleinen Lügen des Alltags zu verstecken.
Aus losen Szenen wird ein Sittenbild
Der Familienvater Rolf, der seit der Scheidung allein lebt, geht noch rasch bei einer Prostituierten nahe der Langstrasse vorbei, ehe sein Wunsch in Erfüllung gehen soll: Ein Weihnachtsabend mit Tochter und Vater. Doch die Tochter lehnt ab. Vater sagt nur, er sei zu müde. Dabei hat Rolf extra gekocht.
Judith, die Sozialarbeiterin, die hinter dem Sihlquai die Prostituierten betreut, findet selber bei ihrem Freund jene Zärtlichkeit nicht, die ihr ein Polizeioffizier im Hotelzimmer bieten kann. Deshalb kommt sie an diesem Abend etwas zu spät zum Essen mit ihrem Freund. Doch der ist misstrauisch geworden.
Auch Lena, die hochschwangere Familienmutter, die ihrem Kind noch rasch ein Geschenk kaufen will, ist misstrauisch: Wie kommt eine Gleitcrèmepackung in den Wagen ihres Mannes? Betrügt er sie, nur, weil sie nicht mehr mit ihm schläft?
Die verwitwete Maria pocht im Wohnblock peinlichst genau auf Einhaltung der Hausordnung. Da ist ihr auch die junge Nachbarin Mia ein Dorn im Auge, wenn sie am Heiligabend noch Wäsche in die Waschküche trägt. Maria hat auch ihr geheimes Leben: Zu Heiligabend hat sie ihren spanischen Bekannten zum Essen eingeladen, und kauft hierfür schöne Spitzenunterwäsche.
Das soziale Netz besteht aus wenig Fäden und vielen Löchern
In «Traumland» sind die Distanzen zwischen den Menschen riesig. Am Weihnachtsabend will das nur niemand zugeben. Das ist nicht der Abend, wo man über die eigene Einsamkeit spricht. Jede der Figuren ist auf ähnliche Art allein. Alle kommen sie mit ihrem Bedürfnis nach Nähe nicht zurecht.
Je mehr wir im «Traumland» in einzelnen Episoden über die Figuren erfahren, desto mehr rückt Mia, eine serbische Prostituierte, in die Mitte. Die Einsamen verbindet ein Netz: Das entscheidende bei einem Netz sind aber nicht die Verbindungen sind, sondern die Grösse der Löcher, durch die man fällt.
Alle Geschichten sind an die eine geknüpft: die Sexualität
Zu Beginn taucht Mia nur am Rande des Bildes Mia auf. Erst ist sie bei der Sozialarbeiterin Judith eine Kundin. Dann ist ihr Kunde der einsame Familienvater Rolf. Dann weist die spanische Immigrantin ihre Nachbarin zurecht. Dann wird Mia von Lena, der schwangeren Familienmutter, auf dem Strich besucht und über Freier befragt. Dann taucht Mia, wie mit Rolf abgemacht, in dessen Wohnung auf, und dringt damit endgültig ins Zentrum des Films.
Als der Satz: «Die Prostituierten sind die Opfer auf dem Altar der Monogamie» den Wendepunkt von «Traumland» markiert, beginnen wir bereits zu verstehen, warum es sich vielleicht lohnt, über Schopenhauers Zweifel an den Menschen nachzudenken.
Dabei liefert Petra Volpe mit «Traumland» nur vordergründig einen Film über Prostitution. Sie seziert für eine Bestandesaufnahme von Neigungen und Zuneigungen vier ganz normale Familien. Dabei legt sie ein würdiges Reifezeugnis ab. Die junge Regisseurin braucht keine lange erklärenden Dialoge, um Geschichte eindringlich zu machen: Sie führt ein tolles Schauspiel-Ensemble dazu, Menschen in ihren Regungen verständlich zu machen. Sie lässt uns fast alles selber entdecken, ohne uns dabei allein zu lassen:
Was wir nicht wissen müssen, – erspart sie uns und weist uns auf das, was wir vielleicht nicht wissen wollen. Als die Gattin den weihnachtsbaumschmückenden Mann wegen der Gleitcreme im Auto zur Rede stellt, endet der Dialog damit, dass das Töchterchen, das gerne ins Zimmer käme, damit vertröstet wird: «Nei, s’Chrischtchindli isch nanig fertig mitem Baum»
Grandioses Schauspielerinnen-Ensemble
Bettina Stucki lässt hinter der robusten Fassade der Sozialarbeiterin Judith ein trauriges, ungestreicheltes Herz aufblitzen. Während sie in der Arbeit käuflichen Frauen auf die Beine hilft, legt sie sich selber privat für einen Fremden hin. Stefan Kurt lässt als ihr Freund ahnen, in welcher unzärtlichen Quarantäne die beiden leben. Während die von Marisa Peredes gespielte Maria, die päpstlicher als der Papst die kleine Nutte massregelt, ausgerechnet von ihrem spanischen Schwarm verflucht wird, weil sie für ihn Spitzenunterwäsche trägt.
Am eindrücklichsten zückt André Jung die Register der Einsamkeit. Er stattet seinen verstossenen Vater so lange mit Liebenswürdigkeit aus, bis wir es fast nicht glauben wollen, als er seine Maske fallen lässt. Auch die schwanger Lena wird von Ursina Lardi behutsam auf der Suche nach einem Rest Zärtlichkeit gezeigt, die sie in der Ehe nicht mehr geben kann.
Ein Traumland mit einem Erwachen
Es ist ein schonungsloser Blick in in die Weihnachtsstuben: Am traurigsten sieht das bei André Jungs Rolf aus: Er hat gekocht. Er hat Vater aus dem Heim geholt. Sein Tochter ist wider Erwarten auch da. Sie isst zwar nur ungern, was er kocht. Riz Casimir. Und fragt besorgt «Ist das Huhn Bio» «Was?» «Bio!» Doch dann taucht auch noch Mia auf. Da sitzen vier Verlorene am Weihnachtstisch. André Jung kann so umwerfend einsam auf einen Bus warten, wie Unterhosen falten, wie kochen, dass wir am Schluss fast vergessen, auf seine Figur böse zu sein, wenn er die Nutte in die Nacht hinaus schickt.
Vom Bildrand langsam ins Zentrum rückt schliesslich Luna Mijovi ihre Mia: Sie eröffnet mit ihrer Figur fast mädchenhaft die Erzählung. Erst zeigt sie ihre Prostituierte souverän. Geschäftstüchtig. Und lässt sie auch als liebende Mutter einen Ausweg finden. Bis sie vom Milieu, in das sie sich täglich begibt, schliesslich eingeholt wird. Wohl rückt Volpe die serbische Prostituierte erst zum Schluss ins Zentrum. Doch da ist das schief hängende Liebesleben ihrer Umgebung längst in der Mitte implodiert.
Volpe weist sich mit «Taumland» nicht nur als eine gerissene Episodenerfinderin aus. Sie kann auch nur Bilder sprechen lassen: Was sie uns von Zürich (und Berlin) zeigt, ist endlich wieder einmal ein Grosstadtblick auf diese Stadt: Randzonen, Dreckecken. Auch setzt sie immer wieder kleine Verbindungen ins Bild, mit denen sie das Puzzle zusammensetzt. Und nicht zuletzt schafft sie immer wieder einen verblüffenden Ausgang aus den Kleinbürgerhöllen, in die sie uns Einblick gewährt.
Das Ende im tiefgefrorenen Zürich
Am Schluss sucht Volpe Distanz in der tiefgefrorenen Stadt. Fast vergessen ist da schon, dass die spanische Witwe, die sich päpstlicher als der Papst selbst um die Hack- und Waschordnung in der Waschküche kümmert, Mia nicht nur die gewaschene Wäsche in den Abfall geworfen hat, sondern auch deren beiseite geschafftes Trinkeld entwendet. Es landet im Opferstock der katholischen Kirche, als wir schon ahnen, dass es zu einem Opfer kommen wird. Selbst die Kerze, die nun in der gläubigen Kirche entzündet wird, wird die Seele nicht retten können.
Wunderschön die Bilder zum Schluss: Wir ahnen bereits, was Mia blüht. Da dürfen wir noch einmal im frühmorgendlich gefrorenen Zürich geniessen, wie die Zeit stillsteht. Hinter den Fenstern hat sich alles in Stille gewandelt. Die Wohnwand steht schön geordnet. Draussen am Waldrand auf einer gefrorenen Bank, sitzt eine Prostituierte, die diese Stadt eben ausgespuckt hat. Ein gespenstischer Windhauch im Schneestaub lässt uns ahnen, dass diese junge Frau nie mehr zu ihrem Kind in die Heimat fahren wird.
«Taumland» ist kein Film über das Rotlicht-Milieu. Volpe ist ein packender Film über einsame Menschen geglückt, die alle nach Nähe, Vertrautheit, Geborgenheit suchen, und nur noch gekaufte Zärtlichkeit finden. Oder erkaufte Weihnachtsfröhlichkeit.