Fast zwei Jahrzehnte nach dem Massaker von Srebrenica hat ein Zivilgericht in den Haag den niederländischen Staat für den Tod von 300 Opfern mitverantwortlich gemacht. Damit wurde erstmals der Heimatstaat einer UNO-Truppe für Kriegsverbrechen Dritter haftbar erklärt.
Den niederländischen Blauhelm-Soldaten müsse bewusst gewesen sein, dass die 300 Menschen, die sich in ihrer direkten Obhut befunden hätten, bei einer Deportation an die bosnischen Serben ermordet würden, stellte das Gericht am Mittwoch fest.
1995 waren in der Kleinstadt Srebrenica binnen weniger Tage fast 8000 muslimische Männer und Knaben von bosnisch-serbischen Milizen umgebracht worden. Das Massaker gilt als folgenschwerstes Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und wurde als Völkermord eingestuft.
Als die Milizen am Nachmittag des 13. Juli 1995 in das Lager einrückten, leistete die schlecht ausgerüstete niederländische UNO-Truppe Dutchbat keinen Widerstand. Einem UNO-Bericht zufolge überliess sie alle Beobachtungsposten und Sperranlagen widerstandslos den bosnischen Serben unter Führung von General Ratko Mladic.
Für den Fall der Enklave und den Tod aller Opfer machte das Gericht die Niederlande nicht verantwortlich. Doch die niederländischen UNO-Blauhelme hätten unrechtmässig an der Deportation von mehr als 300 Männern von ihrem Militärgelände mitgewirkt, sagte die Richterin Larissa Alwin.
Der niederländische Staat weist jegliche Verantwortung für das Massaker von Srebrenica zurück – unter anderem, weil seine Soldaten unter UNO-Führung standen.
Verantwortung zurückgewiesen
Die niederländischen Blauhelme hatten ursprünglich etwa 5000 Flüchtlinge in ihr Lager aufgenommen, die allermeisten davon Frauen. Dass weitere Schutzsuchende später abgewiesen wurden, sei aufgrund der sanitären Bedingungen im Lager zwar «angemessen» gewesen, urteilte Alwin.
Da vor jenem verhängnisvollen 13. Juli allerdings schon etliche Muslime getötet worden waren, hätten die Soldaten das Risiko eines Massakers «in Erwägung ziehen müssen» – weil sie stattdessen aber «bei der Deportation dieser Männer kooperierten, verstiessen sie gegen geltendes Recht».
Aus Sicht der Richterin wären die Opfer höchstwahrscheinlich «noch am Leben, wenn die UNO-Truppe Dutchbat ihnen den Verbleib im Lager erlaubt hätte».
Für die Tötung tausender anderer Muslime durch den Fall der Enklave Srebrenica könnten die Soldaten hingegen nicht verantwortlich gemacht werden. Das niederländische Verteidigungsministerium will das Urteil nun prüfen. Es ist noch nicht rechtskräftig.
Abschreckende Wirkung
Das Urteil des Zivilgerichtes könnte Folgen für künftige UNO-Friedenseinsätze haben. Experten fürchten, dass es Staaten von der Teilnahme abschrecken könnte. Zwar geniessen einzelne Soldaten aufgrund des UNO-Mandats Immunität. Nach dem Urteil kann aber ihr Heimatstaat als Verantwortlicher für ihre Taten herangezogen werden.
Geklagt hatte die Vereinigung «Mütter von Srebrenica», in der tausende Angehörige von Opfern des Massakers im Bosnien-Krieg zusammengeschlossen sind. Für sie war es ein emotionaler Tag. Mehrere vorwiegend alte Frauen brachen in Tränen aus. Der Anwalt der Mütter, Marco Gerritsen, nannte das Urteil «einen grossen Schritt in die richtige Richtung».
Dennoch erwägen die «Mütter von Srebrenica» Berufung einzulegen. Denn ihrer Klage wurde nur zum Teil entsprochen. Sie wollen, dass die Niederlande für die Deportation aller Flüchtlinge haften sollen.
Munira Subasic, eine der Mütter von Srebrenica, begrüsste das Urteil, erinnerte aber auch an das Schicksal der an den UNO-Lagergrenzen zurückgewiesenen Flüchtlinge: «Wie soll man einer Mutter erklären, dass die Niederländer für den Tod ihres Sohns auf der einen Zaunseite verantwortlich sind, nicht aber für den ermordeten Sohn auf der anderen Seite des Zauns?»
Für das Massaker müssen sich derzeit der damalige General Mladic und der damalige Serbenführer Radovoan Karadzic vor dem UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verantworten.