Die Ebene von Neapel tut sich auf, der Gepäckträger macht schon wieder schlapp und ich freue mich auf den Besuch bei einem Freund, der vor Jahren hierher ausgewandert ist.
Seit langem wieder einmal wolkenloser Himmel und nach der langen kühlen Periode ist der Morgen angenehm frisch. Kurve erst nach Atina hoch, hole in der Post Briefmarken und wundere mich über die verschiedenen Kulturen, die da aufeinander treffen. Einer der Schalterbeamten tippt Zahlen in den Computer, druckt irgendwelche Papiere aus, die er dann mit wuchtigem Stempelknallen für offiziell erklärt. Dann nimmt er die Schere, schneidet das Dokument in drei Teile, gibt dem Kunden den einen, heftet ein zweites in eine Art Quittungsbüchlein und das dritte legt er in ein braunes, abgewetztes und fettiges Couvert. Sein Kollege kleistert grad einen dicken Brief zu.
Zwei Männer hinter mir flüstern sich was von einer Abmachung am Abend zu, flüstern so laut, dass man sie gut verstehen kann, aber niemand hört hin. Camorra?
Eine schöne Fahrt hinunter nach Cassino, immer leicht abwärts, sehe mal eine Bar, vor der zwei alte Frauen sitzen. Sie schauen mir zu, wie ich umständlich das Velo parkiere. Dann geh ich die Treppe hoch, die Bar ist geschlossen, die beiden Frauen blicken schweigend vor sich hin. Ist geschlossen? frage ich. Geschlossen, sagen sie.
Soldatenfriedhöfe
Vor Cassino ein Hinweis zu einem deutschen Soldatenfriedhof – all die Namen, all die Geschichten, all die jungen Männer, die so weit weg von ihrer Heimat vermodern. Auf diesem Feld, das in einer so anderen Umgebung liegt als die ihre zuhause – sie haben hier gewütet, geschossen, gehofft, geflucht, gezittert. Sind ach so sinnlos verheizt worden hier im Süden. Weiter unten der französisch-britische Friedhof. Die ganze Sinnlosigkeit nochmals und über allem trohnt Monte Cassino, hoch oben auf dem Berg. Trutzig. Es soll wahnsinnig heftig gekämpft worden sein in der Gegend von Neapel, höre ich später, und keine italienische Stadt ist so bombardiert worden – das Hafenviertel sei vollständig dem Erdboden gleichgemacht worden, und die Festung von Neapel, das Wahrzeichen, stehe nur noch, weil irgend ein Kommandant am Schluss den Sinn doch nicht eingesehen habe, dieses strategisch unwichtige, aber symbolisch bedeutende Bauwerk zu vernichten.
Und dann kracht der Gepäckträger wieder. Auf der anderen Seite. Meine Schnur-Flickstelle hält noch, und dennoch biege ich bei einem Velomacher ein und lass mir einen neuen montieren. Unterdessen telefoniere ich in die Schweiz und erkundige mich bei Freunden nach der Telefonnummer von einemalten Freund, der ausgewandert ist, in die Nähe von Neapel. Ich finde die Nummer heraus, telefoniere ihm und Jürg Hagmann meldet sich. «Ja, ich bin zuhause, komm vorbei. Du kannst bei mir wohnen.»
Fahre auf der Landstrasse Richtung Neapel, dreissig, vierzig Kilometer ein ständiges Auf und Ab, auf kleine Anhöhen, die man im Auto wahrscheinlich gar nicht wahrnehmen würde, dann im Sauseschritt wieder hinunter und um halb fünf kurve ich auf der Piazza von Casanova di Carinola ein.
Vor der Bar in Casanova di Carinola
Vor der Bar sitzt Jürg Hagmann. Ich war mit ihm zusammen Lehrer in Domat/Ems. Aus unerfindlichen Gründen musste er seine Stelle verlassen. Das geschah ihm immer wieder: Wenner eine neue Stelle als Lehrer fand, ging es ein, zwei Jahre, und er musste wieder gehen. Als dann vor etwas mehr als zehn Jahren die Fichenaffäre aufflog, forderte er seine Fiche an und konnte schwarz auf weiss lesen, was da für Unsinn über ihn stand. Für ihn war jetzt klar, warum er seine Stelen immer wieder verloren hatte. So wanderte er aus, zuerst in die Türkei. Und seit vor sieben Jahren lebt er hier in Casanova di Carinola. Er bauert, macht Wein, Olivenöl, Tomatensäfte, Eingemachtes und gibt daneben Italienischkurse. Seine Produkte verkauft er an Freunde und ander HIGA, der Gewerbemesse in Chur. Nun sitzt er hier vor der Bar, freut sich, mich zu sehen und ich sitze auch vor die Bar.
Wir sitzen vor der Bar wie all die Männer hier, die schon den ganzen Tag lang hier sitzen, schwatzen, nichts tun oder Karten spielen, den jungen Burschen und Mädchen zusehen, die auf Töffs vorbeidonnern und tuckern. Schwatzen, schwatzen – einem Mann fällt auf, dass ich hohe Wanderschuhe trage, und er fragt nach dem Grund. Ob ich friere?
Die Leute kennen Jürg, bleiben halt mal stehen und schwatzen. Einer zum Beispiel ist Advokat, er erkundigt sich nach dem Prozess. Im Oktober habe er einen Drogenprozess, sagt Jürg. Angeklagt wegen Dealerei und Hanfanbau. Er war eben der Ansicht, das Klima hier sei gut für Hanf. Im schlimmsten Fall muss er ins Gefängnis. Er erzählt das so locker, wie er vieles so locker und nebenbei erzählt; kann mir aber schon sehr vorstellen, dass es ihn aufwühlt.
Abwechslungsreicher Italienischkurs
Später fahren wir ans Meer, holen die beiden zurzeitigen Kursteilnehmerinnen seines Italiensichkurses («Italiensich lernen und die Gegend um Neapel geniessen») am Meer ab. Sie hatten am Morgen in seinem gemieteten Schulhaus Italienischstunden, jetzt am Nachmittag haben sie sich am Meer ausgeruht. Wir fahren zurück, kaufen unterwegs Büffel-Mozarella, gehen ins Schulhaus, wo auch eine Küche ist, machen inmitten Tausender Gläser von eingemachten Tomaten- und Olivenpasten und -saucen Teigwaren, inmitten einer Küche, die auch Lehrbetrieb ist: denn neben Italienisch lernt man hier Einmachen, Wein machen, Ölkünste kennen lernen – alles beim gleichen Lehrer Jürg Hagmann in dieser unglaublich kreativ-chaotischen Küche mit dem Schulzimmer nebenan.
Es hat etwas Rührendes, wie der Lehrer in seinen kurzen, grauen Haaren da mit seinen Schülerinnen, zwei Redaktionssekretärinnen der „Südostschweiz“ am Küchentisch sitzt, etwas verschroben. Rührend auch, weil er erzählt, wie er keine Lehrer-Stelle in Graubünden länger als zwei Jahre innehaben konnte. Immer wurde ihm gekündigt, weil er der Nähe zu Marco Camenisch verdächtigt wurde, dem Brandleger, der auch einen Zöllner erschossen hat.
Und so sitzen wir, trinken selbstgekelterten Wein, die Stille kehrt ins Dorf ein, keine Töffs. Jürg bringt die beiden Frauen ins Zimmer, ich wasche das Geschirr ab, bleibe allein in der Villa Schulhaus zurück und feiere den schlichten Augenblick.
(Casanova di Carinola, 13. August 2002)