Zürich Film Festival 2013: ein grosses Stelldichaus

Das 9. Zürich Film Festival feiert seine Sieger: den Mexikaner Diego Quemade-Díez für «La Jaula De Oro», die deutsche Produktion «Finsterworld» aber auch «Neuland», den Dokumentarfilm der Baslerin Anna Thommen. Bleibt die Frage, was Zürich zu bieten hat, um an das etabliertere Schweizer Festival von Locarno aufzuschliessen. Das 9. Zürich Filmfestival ist zu Ende. Der […]

Doppelter Gewinner: «Finsterworld» mit der jungen Schweizer Schauspielerin Carla Juri.

Das 9. Zürich Film Festival feiert seine Sieger: den Mexikaner Diego Quemade-Díez für «La Jaula De Oro», die deutsche Produktion «Finsterworld» aber auch «Neuland», den Dokumentarfilm der Baslerin Anna Thommen. Bleibt die Frage, was Zürich zu bieten hat, um an das etabliertere Schweizer Festival von Locarno aufzuschliessen.

Das 9. Zürich Filmfestival ist zu Ende. Der Mexikaner Diego Quemade-Díez erhält für für «La Jaula De Oro» den Hauptpreis. Doppelt ausgezeichnet: «Finsterworld». Aber auch Basel kommt zum Zug: Der Dokumentarfilm «Neuland»von Anna Thommen ist unter den Siegern.

Gilt das noch: Zürich versus Locarno?

Locarno richtet alljährlich das bedeutendste europäische Filmfestival der Schweiz aus – Zürich das jüngste. Rechtfertigt das einen Vergleich? Was die Filmauswahl betrifft, so vertritt Locarno cinéastische Tradition mit Weltpremièren. Das zeigt sich zum Beispiel in der exzellenten «Semaine de la Critique», an die das Dokumentarfilmfenster von Zürich noch nicht heranreicht.

«Migranten sind ein Geschenk für die Schweiz», unser Porträt der jungen Basler Dokumentarfilmerin Anna Thommen, die für ihren Film «Neuland» am Zurich Film Festival ausgezeichnet wurde.

Zürich schreibt zwar in dieser Kategorie auch einen internationalen Wettbewerb aus, den die Baslerin Anna Thommen mit «Neuland» gewonnen hat und öffnet mit seinem New World View-Fenster (in diesem Jahr bestechend: Brasilien) gezielt unsere Augen für aufstrebende Filmländer; doch erinnert die Auswahl insgesamt eher an einen Gemischtwarenladen.

Immerhin setzt Zürich neu auf Filme für Kinder (Gewinner hier: Der britische Beitrag «Believe» von David Scheinmann).

Ansonsten sind beide Anlässe, wie andere auch, den kommerziellen Tendenzen des Filmmarktes ausgesetzt: Die internationalen Produzenten sehen in den Festival-Schaufenstern immer mehr einen Teil ihrer Werbemaschinerie. Locarno bleibt mehr der Kunst verpflichtet.

Inhaltlicher Schwerpunkt: Die Fragilität der Zivilisation

Aus dem reichen Film-Angebot des Zürcher Festivals liessen sich viel Strömungen ablesen: Allen eigen ist ein Thema: Die Angst vor Verlust der Zivilisiertheit. Die Zivilisation ist fragil geworden. Die Auflösung der Geschlechtergrenzen und Familien ist ebenso ein Thema wie die soziale Misere. Filmer erweisen sich erneut als Seismographen der globalen Erdbewegungen.

Zum Hinschauen: Filme, die zeigen, wo wir wegschauen

Gleich in mehreren Filmen wird die soziale Verrohung im neuen Naturalismus thematisiert: In «Joe» ist es ein störrischer Einzelgänger, der sich gewaltsam aber vergeblich gegen die Verrohung stemmt. In «Tore tanzt», einem bis über die Ekelgrenze genau beobachteten Erstling, wird der Opfergang eines christlichen Jugendlichen in der Assi-Randzone gezeigt. Während sich in «Left Foot Right Foot» ein kunstvoll gestrickte Elendsballade abwickelt.

Tore tanzt

Tore tanzt

Diese Filme lassen uns hinschauen, wo wir wegschauen möchten. Sie übertreten die Ekelgrenze zum ’sozialen Abschaum‘. Sie wecken die eigentliche Urkraft von Kino seit Hitchcock: Das Nichthinsehen können, weil wir alles schon ahnen. Die Filme öffnen uns die Augen für soziale Brennpunkte und machen uns gleichzeitig deutlich, wie düpiert wir grad wegschauen.

Zum Hinschauen: Das nackte Überleben und Sterben

Im All draussen verliert in «Gravity» eine Wissenschaftlerin im Sekundentakt fast alle technologischen Errungenschaften der Zivilisation. Nach einem dreidimensionalen Parforceritt durch die Weite und Enge des Alls bleibt ihr nur das nackte Überleben. In fantastischen Bildern werden wir an die Anfänge der Zivilisation katapultiert.

In «All is lost» tritt der Verlust der Zivilisation ganz leise ein – ausgelöst von einem heftigen Aufprall auf einen verlorengegangenen Container. Ein Alleinsegler sieht sich plötzlich mit aufgeschlitztem Schiffsrumpf mitten auf hoher See. Während in «Gravity» die Frau  (Sandra Bullock) sich mit handwerklichem Geschick immer auf den letzten Drücker rettet, tut es der Mann (Robert Redford) in «All is lost» fast mit einer stoischen Ruhe und Voraussicht. Immer ist er der Katastrophe um einen Schritt voraus. Doch die Katastrophe lässt sich nicht aufhalten.

Sterbehilfe als Lebenshilfe

Ein ganz wunderbar stilles Sittenbild ums Sterben der Zivilisation liefert Schottland: «Still Life» folgt einem aussterbenden Beruf: Dem Sozial-Bestatter, während die italienische «Miele» mit dem Sterben in der Zivilisation beeindruckt: Eine Sterbehelferin wird zur Lebenshelferin.

An Leichtigkeit obenauf schwingt «Finsterworld», das klare Highlight für Kritikerherzen (mit der Schweizer Schauspielerin Carla Juri, die zuletzt mit «Feuchtgebiete» Aufsehen erregte). Die Hamburger Filmemacherin Frauke Finsterwald löst die Zivilisation in heiterster Laune auf. Unter der Oberfläche der neuen Oberstklasse schlummert die brutale Vergangenheit. Zu Recht hat sie gleich zwei Auszeichnungen erhalten: den Kritikerpreis und den Wettbewerb der «Deutschsprachigen Spielfilme».

Neuland betreten auf dem Weg in die Zivilisation

Andere Filme, vor allem aus der Neuen Welt, lassen die Zivisation einen neuen Anlauf nehmen: Der Hauptpreis des diesjährigen Zurich Film Festivals ging hierfür an den mexikanischen Regisseur Diego Quemade-Díez für «La Jaula De Oro», der schon in Cannes zum besonderen Talent gekürt wurde: Jugendliche Guatemalteken immigrieren in ein neues Land. Schon «Neuland» betreten haben Schülerinnen und Schüler einer Basler Integrationsklasse im (mit einem «Goldenen Auge» ausgezeichneten) Dokumentarfilm von Anna Thommen.

Viele grosse internationale Spielfilmproduktionen rauschten in Zürich nur aus Werbegründen vorbei. «Rush», «Prisoners», «All Is Lost», «Liberace» und «Filth» konnten bereits andernorts gesehen werden. Zürich bleibt eben auch unbestritten die Hauptstadt der Schweizer Film-Industrie. Wer nach Zürich einlädt, tut das von jenem Ort aus, wo die meisten Schweizer Produzenten und Firmen der Industrie operieren. Zürich lädt die Gäste in die Wohnstube der Filmer. Und an den Hauptsitz der Brand-Manager.

Zürich schafft neue Traditionen

Wer nach Locarno fährt, bleibt, trifft sich, macht Zufallsbekanntschaften und knüpft gute Business-Kontakte. Locarno ist in den Tagen des Festivals eine grosse Deutschschweizer Stadt. Locarno ist die Ferienterrasse der Filmbegeisterten.

Zürich ist die Stadt mit dem hippen Promi-Faktor. Mit schrillen Clubs für Premièrenfeiern. Mit einem grossen Einzugsgebiet für Brand-Manager. Zürich ist Hauptstadt der Schweizer Werbeindustrie. Zürich ist aber auch weitgehend Sitz der grossen Schweizer Medien. Zürich hat den höheren Durchschnittsdurchschnitt für fast alles, was mit Geld zu bezahlen ist.

Locarno zeigt Weltpremièren. Locarno ist ein internationaler Treffpunkt für Verleiher und Produzenten. Locarno hat aber auch für das Volk die Piazza, die weit mehr bedeutet als nur ein fantastischer Kinosaal unter dem Himmelszelt. Die Locarnesi lieben ihr Festival mitten in der Stadt, diese grosse Tradition.

Zürich liebt den Glamour. Zürich nennt seinen Filmmarkt «Boutique». Die Zürcher fahren beim Shoppen an ihrem Festival vorbei, und kreischen kurz aus langen Hälsen, wenn draussen ein Promi vorbeihuscht. Zürich zeigt Erstaufführungen im deutschsprachigen Raum und immerhin auch Weltpremièren. Beide Festivals können nicht mehr von aktuellen Schweizer Produktionen präsentieren, als da ist.

Trotzdem ist Unvergleichliches nicht zu vergleichen

Zürich hat sich dank Efforts von Privaten innerhalb weniger Jahre auf den Weg gemacht, ein bedeutendes Festival zu werden: Dabei hat Zürich den Vorteil, dass die Achse BRD-Schweiz langfristig stärkere Kooperationen verspricht, auch mehr deutschsprachige Premièren.

Doch hat das Zürcher Festival auch ein eigenes Gesicht bewiesen: Für Kinder, für Junge und für die nächsten Generationen ist man bereits mit Xavier Kollers «Die schwarzen Brüder» prominent aufgefallen. Zürich bietet auch mehr für die jungen Filmemacher: Master-Classes, Fach-Talks, Treffpunkte. Es  profitiert dabei von der Nähe von Ausbildungstätten der Stadt, in Luzern und gar der Westschweiz. Zürich will den Weg zu einem jungen Festival verstärken.

Standortvorteil einer grossen Stadt

Deutschland hat sehr gut dotierte Filmstiftungen, so wie auch Zürich und Bern. Sie verstärken die Zusammenarbeit über die Grenzen. Ebenso werden von Zürich aus immer mehr Kooperationen mit der stärksten Filmindustrie Europas, Frankreich, geknüpft. Hält dieser Trend an, hat das ZFF längerfristig mehr Optionen.

Die Zürcher werden den Locarnesi immer eines voraus haben: Ein paar hunderttausend Haustüren und einige Hotels mehr. Oder anders gesagt: Locarno bleibt das Stelldichein – und Zürich ist das Stelldichaus.

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