Der Tag beginnt mit Blutwurst, erstreckt sich in gemächlicher Hügel-Wanderung und endet in Glasgow.
Blutwurst zum Frühstück, das war hart. Wir sassen zu dritt, Barry und Colin, die beiden entgegengesetzt Wandernden, und ich in der niedrigen Stube, der Tisch üppig gedeckt – und da, neben Spiegelei, Champignons, Schinken und weiterem: die Blutwurst. Ich hab sie sofort gegessen, um den Schrecken hinter mich zu bringen, danach aber plötzlich befürchtet, die Frau des Hauses könnte denken, ich hätte sie als besonderen Leckerbissen zuerst geschnappt und wünschte eine Zugabe. Das war glücklicherweise falsche Angst. Es tauchte keine Blutwurst mehr auf.
Barry und Colin hatten den Highland Way vor sich, den ich gekommen war. Sie hatten eine Woche Ferien vor sich und erzählten von ihrer Arbeit. Barry hielt sich kurz. Er ist Elektriker, arbeitet jetzt als Kontrolleur in der Region Glasgow. Was er kontrolliert, mag er nicht sagen – «it´s just a job». Colin arbeitet in einer Druckerei in Edinburgh, holt Aufträge aus dem ganzen Königreich rein. Nächste Woche wird er nach London fliegen.
Er geht nicht gern nach London. Das sei nicht seine Welt. Too busy. Redet er mit seinen Kunden in London auch so wie hier am Tisch? Dieses Schottisch, das sehr unbeholfen wirkt – sagen wir es mal so. Oder gar: ein bisschen sehr Dialekt, hinterwäldlerisch, fast trottelig? Auf Anhieb versteh ich kaum ein Wort. Und wenn sich Colin, Barry und Susan, die Frau des Hauses, locker unterhalten, wähne ich mich irgendwo, aber nicht auf der britischen Insel. Ob Barrys Bruder, seit Jahren Lehrer in London, auch so redet. Dort in der geschäftigen Fremde.
Das Glück in der Fremde
Alle wandern nach England aus, klagt Susan, die schottische Bevölkerung wird kleiner. Es gibt zu wenig Jobs hier, sagt Barry, sein Bruder habe nach dem Abschluss auch keinen gefunden. Er habe sein Diplom nach England geschickt, und die in England machen eine Liste von den eingesandten schottischen Diplomen und die Bestbenoteten ziehen sie ab. Trotzdem möchte er nicht mit seinem Bruder tauschen: Was für ein kleines Haus der in London hat.
Jim, der Herr des Hauses ist sehr beschäftigt. Irrt mit Briefen, mit Offerten umher, setzt sich hin, notiert, steht auf, sucht etwas heraus, setzt sich an den Küchentisch, schreibt Adressen auf Couverts. Auf der Rasenfläche unterhalb des Hauses, unmittelbar über dem See, liegen grosse Spanplatten. Ein Podest wird gebaut. Gibt´s hier bald Tanz? frage ich. No and yes, sagt Susan. In zwei Wochen heirate die Tochter. Das Fest finde auf diesem Plätzchen statt. Es werde noch mit einem Zelt überdacht wegen des Wetters. Vor zwei Jahren habe die andere Tochter geheiratet. Und die zweite wünsche sich das gleiche Fest am gleichen Ort. «Macht uns alle ein bisschen nervös. Viel Arbeit – und das Wetter! Wenn´s nur wenigstens so wäre wie heute – kein Regen.»
Das wars dann schon in Balmaha. Wir tauschen Adressen aus, dann ziehe ich Richtung Drymen los – ein herausgeputztes Vorstadtnest, 25 Kilometer vor Glasgow. Putzige Shops, Restaurants, Hotels mit goldenen Anschriften, die auch im diesigen Licht leuchten, die Vorgärten frisch gekiest, geharkt.
Gepflegte Ordentlichkeit
Ein Schild in einem Einfamilienhaus-Quartier macht auf die Neighbourhood-Watch-Area aufmerksam, als Relief herausgehoben die Köpfe der Nachbarschafts-Beobachter: unter angestrengt freundlich blickenden Kindern, Müttern und Vätern auch ein Polizist und ein Schäferhund. Hier ist alles überwacht, sagt das Schild, hinter jeder Gardine ist ein spähendes Auge zu vermuten. Eine heftig bissige Ordentlichkeit.
Der Highland Way verliert sich in Hügeln, zieht an Farmen, Gewächshäusern und Distillerien vorbei. Es wird urban, hinter jedem Hügel ist der plötzliche Blick auf die Grossstadt denkbar.
Ein Holländer kommt entgegen, seltsam gewandet, ein Wolltuch um den Hals, einen Winterpulli übergezogen. Er trägt zwei Rucksäcke, einen am Rücken, einen vorgehängt. «Der da», er zeigt mit dem Daumen nach hinten, «ist für die Kleider, und der da», mit dem Zeigefinger nach vorn, «fürs Essen».
Parkähnliche Landschaft, elegant frisierte Mütter führen Kinder aus, modisch gekleidete Gattinnen lassen den Hund ins Feld – Milngavie. «Mölgnia», oder so ähnlich sprachen das Colin und Barry aus – «da. wo Glasgows Millionäre wohnen».
Graue Einfahrt in Glasgow, riesiger Bahnhof, happy hour, die Leute zieht es entweder heim oder sie treffen sich in Pubs. Ich hatte befürchtet, einen Stadtschock zu bekommen, doch ich fühle mich sehr wohl in dieser klotzigen Stadt, trage meinen zu grossen Rucksack durch die zu breiten Strassen, suche mir eine Unterkunft, und da beginnt, was seit einer Woche nicht mehr begonnen hat: ein unbarmherziger Regen.
(Glasgow, 7. Mai 2002)