Zwei Amerika-Bilder werden zum Glücksfall

Glaubt man den beiden Film-Meistern Scorsese und Payne zerfällt Amerika in zwei Welten. In der einen verdient man Geld mit Geld im Überfluss. In der anderen verdient man mit Arbeit kaum mehr etwas. Wird Arbeit bald zur unlukrativen Erwerbsform? «The Wolf Of Wall Street» und «Nebraska» Zwei Filme bieten im Moment Anlass, sich von Amerika […]

Glaubt man den beiden Film-Meistern Scorsese und Payne zerfällt Amerika in zwei Welten. In der einen verdient man Geld mit Geld im Überfluss. In der anderen verdient man mit Arbeit kaum mehr etwas. Wird Arbeit bald zur unlukrativen Erwerbsform?

«The Wolf Of Wall Street» und «Nebraska»

Zwei Filme bieten im Moment Anlass, sich von Amerika ein Bild zu machen.Die Bilder der beiden Meister Scorsese und Payne trennen Amerika in zwei Welten. In der einen lässt sich mit Geld leicht Geld verdienen. In der anderen bringt Geldverdienen mit Arbeit nichts. Zwei mal Amerika unter der Lupe.

Jenen, die mit Arbeit Geld verdienen, droht die Arbeit auszugehen. Jenen, die Geld mit Geld verdienen, könnten bald die Quellen ihrer Einkünfte versiegen. Ganz sicher aber fehlt das echte Geld bereits heute, das noch Arbeit finanzieren könnte. In Amerika droht Arbeit bald zur unlukrativsten Erwerbsform zu werden.

Zwei Filme. Zwei mal Amerika. Widersprüchlich, eigenwillig, erbarmungslos sind beide. Allerdings wäre es zu einfach zu sagen, «The Wolf Of Wall Street» zeige das Amerika der Reichen und «Nebraska» jenes der Hinterländler. Dafür ist die Welt dieser absteigenden Grossmacht zu komplex. Wo Dürenmatt einst proklamierte, der Welt sei nur noch mit der Komödie beizukommen, kann die amerikanische Welt im Krimi immer noch erklärbar gemacht werden.

Beizukommen ist der dortigen Welt aber damit nicht, es sei denn in Bildern, die Widersprüche stehen lassen können. Beide Filme vereinen sich darin bildhaft zu einem Glücksfall: Auf der einen Seite ein Gedicht in schwarz-weiss. Auf der anderen Seite ein schriller Farb-Thriller. Zwei Meister. Zwei Auffassungen in eine Debatte über Amerika.

Zwei Seiten einer Medaille

Das Aufeinandertreffen beider Filme ist ein Glücksfall. Auf der einen Seite präsentiert Payne («Descendants») ein Gedicht Schwarz auf Weiss. Auf der anderen Seite Scorsese einen schrillen Farb-Thriller. Zwei Meister. Zwei Auffassungen in einer Debatte über Amerika. «The Wolf Of Wall Street» zeigt ein hektisches Amerika der Gier. «Nebraska» zeigt den Stillstand im Hinterland. In beide ist man unterwegs nach Geld.

In beiden Filmen ist das Streben nach Geld das Kerngeschäft: In «Nebraska» schält sich dieser Hauptstrang erst langsam aus der Geschichte. Woody hat in einem Zeitschriftenwettbewerb einen Millionengewinn gemacht. Er muss ihn nur abholen. Natürlich weiss jeder in der Umgebung des alten Mannes, dass es diese Million nicht gibt. Aber der verwirrte Mann bleibt so lange so stur, bis die ganze Familie den Vater begleitet, um die nicht vorhanden Million zu holen. Derart kommt der alte Mann vielleicht wenigstens wieder zu Verstand, und erkennt wieder den Sinn seines Lebens: ein armer Schlucker zu sein. Wie seine ganze Familie.

Auch in «The Wolf Of Wall Street» ist man unterwegs nach den Millionen. Aber hier sind es Millionen, die man anderen aus der Tasche lockt. Hier entwickelt der genialer Verkäufer Jordan eine todsichere Gewinnmaschine. Mit versteckten Mehrheitsbeteiligungen an Firmen werden Kursmanipulationen zu eigenen Gunsten vorgenommen. Der Markt wird gemolken. Die Anleger gebraten. Das Geld ist auch hier virtuell. Doch in «The Wolf Of Wall Street» lässt es sich in reale Werte ummünzen: Die Kulissen zumindest sind aus Marmor und baufrisch.

Während  im Hintergrund des Handelsraums von «Wolf» die Aktienkurse laufen und die Händler im Vordergrund die Handelspreise selbst manipulieren, weisen in «Nebraska» alle Zeichen auf Abbau: Bankfilialen stehen leer. Häuser zerfallen. Gearbeitet wird höchstens an einem Gebrauchtwagen. Das Geld ist längst nur noch eine Glaubensfrage. Bald sind Gläubige und Gläubiger eins. Wie in einer Sekte.

Während in «Wolf» in der Vorabendsendung die Ökonomen noch über «virtuelles Geld» und «Buchgeld» und «Bankengeld» nachdenken, füllt Scorsese die Bilder mit den akkumulierten Reichtümern jener, die Geld mit Geld verdienen. Als Jordan seinen Rücktritt bekannt geben will, tragen im Hintergrund der Teppichetage bereits die Ersten das Ergaunerte aus dem Bild. 

Hollywood versus Indie-Film

In Scorseses Amerika lebt die Ikonografie der Hollywoodkulisse: Er setzt die Menschen in Umgebungen aus, die wir seit «Wall Street», «American Psycho», oder «The Bonfire of Vanities» seit den Neunzigern selbstverständlich voraussetzen dürfen. Sein Amerika umgibt sich mit Interieurs, die die Behauptungswelt der Reichen verteidigen. In Scorsese Amerika sind die Interieurs vollgestellt mit Dingen, denen eine mögliche Wertsteigerung innewohnt: Die Immobilien sind Anlageformen. An den Wänden hängt Kunst, die Mehrwert verspricht. Selbst der Lamborghini ist eine Geldanlage mit Phantasie. In Scorseses Amerika hat die Welt des Scheins die Welt des Seins fest im Griff. Das ist nicht die «Schöner Wohnen»-Welt, die Gemütlichkeit sucht oder die «Golfer-Gazette», die in den Neunzigern nach einem neuen Lebensgefühl suchte. Hier verströmt alles den Duft eines Werbe-Prospekt für ein «Going Public». Was zählt sind Futures. Die Gegenwart hat sich längst in die Zukunft verabschiedet.  

Payne holt in «Nebraska» die Menschen in ihren eigenen vier schäbigen Wänden ab. In seinem schwarz-weiss abgelichteten Amerika sind die Interieurs schmucklos. Die Menschen sitzen auf Sofas, die aus dem Trödelladen stammen, oder zumindest dringend dorthin verbracht werden sollten. Die Gegenstände mit denen sich die Menschen in Paynes Amerika umgeben, haben keine rühmliche Zukunft vor sich. Sie strahlen höchstens eine schäbige Vergangenheit aus. Alles scheint darauf zu warten, dass das letzte Stündchen schlägt. Der Fernseher ist kein Mega-3-D-Schaufenster in die Welt, sondern etwas, das die Menschen anstarren, ohne wissen zu wollen, was sie zu sehen kriegen. Auch wir erfahren dabei nicht, was die Menschen, die all die überschuldeten Bauruinen im Renovationsstau bewohnen, interessiert. In Paynes Amerika sind die Strassen menschenleer. In den Wohnungen ist selbst der Gebrauchtwarenverkehr zum erliegen gekommen. Von jedem anderen Verkehr scheint ohnehin längst keine Rede mehr. Die Gegenwart ist längst nur noch Vergangenheit.

Das Zeitalter nach der Abschaffung von Arbeit als Erwerbsform

In Scorseses Amerika arbeitet niemand für Geld. Die Menschen verdienen ihr Geld mit Geld. Es gibt zwar durchaus eine sichtbare Form von Arbeit, die im Verkauf von Geld in unterschiedlichsten Anlageformen besteht. Aber sinnstiftende Arbeit, wie etwa Kinderbetreuung oder eine kleine Klempnerei kommen nicht vor. Vorwiegend männliche Händler schieben einander brüllend Geldanlagen zu. Frauen haben dabei eher dekorative Aufgaben. Vorzüglich in exklusiven Labels verhüllte weibliche Formen tauchen zwar auf, dienen den Männern aber eher zur Freizeitgestaltung als zur Partnerschaft. In Scorseses Amerika ist Sexualität eine Form von Geldverkehr.  Der Geschlechtsverkehr hingegen scheint eher ein Vorspiel für einen finanziellen Gewinnerguss zu sein.  Wobei Finanzgeschäfte offenbar naturgegeben erfolgreich am legalen Tellerrand stattfinden müssen. Crime does pay!  

In Paynes Amerika verfügen die Menschen über randlos viel Zeit. Die Arbeitslosen bringen in ihren Tagen nicht möglichst viel Leben, sondern in ihrem Leben möglichst viele Tage unter. Wenn Sie miteinander sprechen, verbergen sie voreinander mehr, als sie sich sagen. Sie alle schämen sich, dass sie es zu nichts gebracht haben, ausser zu ein paar Gebrauchtwaren. Die Menschen in Paynes Amerika arbeiten nicht mehr, sie basteln höchstens noch. Das mag an der Überalterung liegen, die offensichtlich schon in der Jugend einsetzt, oder an der Erkenntnis, dass Arbeit sich nicht mehr lohnt. Work doesn’t pay.  

Zwei Welten werden durch zwei Sprachwelten getrennt

In Scorseses Amerika ist die Sprache jene des Verkaufs. Meist verkaufen die Menschen Geld oder sich selbst möglichst gewinnbringend. Die Sprache ist handlungsorientiert im doppelten Sinn: Gesagt wird, was für einen Handel relevant ist. Sei es bei Tisch, im Bett, oder am Computerbildschirm. F-Wörter deuten dabei den nahtlosen Übergang vom Sexual- zum Geldverkehr an. Die Sprache dient der Verteidigung der Stärke. Und der Verhüllung der wahren Absichten. Ihr Nutzen liegt im Einsatz zur Übervorteilung.

In Paynes Amerika wird hingegen nicht viel geredet. Worüber auch? Die Sprache ist bloss eine hilfloses Versteck für Schwächen. Das Schweigen der Menschen ist längst zu ihrer Hauptaussage geworden. Im Schweigen ist man sich wenigstens einig. Zu berichten gäbe es ohnehin nicht mehr, als,  dass einem die Worte eigentlich fehlen. Worte gehören bei diesen Menschen unverbrüchlich zur Arbeit. Und eben die fehlt.

Das System verschleiert sich selbst

Interessant ist dabei, dass in beiden Filme angedeutet wird, was Orwell in seinem dystopischen Roman «1984» mit «Doublethink» bezeichnet hat: Die Fähigkeit, die Realität, die man verleugnet, gleichzeitig zu akzeptieren. (Tatsachen, die unbequem geworden sind, werden  vergessen, oder, falls nötig geleugnet. Der Gebrauch des Begriffes «Doublethink» macht die Verwendung von «Doublethink» erforderlich. Durch «Doublethink» wird die Erinnerung an das «Doublethink» gelöscht, womit die Lüge der Wahrheit fortlaufend einen Schritt voraus ist.) Während in «Nebraska» der Dialog, der die Wirklichkeit erfassen könnte, verstummt ist, dienen in «Wolf» die Dialoge eben der Verschleierung der kriminellen Wirklichkeit.

Die Droge der Drogen: Das Geld

Die Drogensucht spielt in beiden Filmen eine Hauptrolle, und zeigt ihre zwei unterschiedlichsten Gesichter: Während Woody in «Nebraska» klagt, «Bier ist doch nicht trinken!», und sich weiter volllaufen lässt, weil er längst keine Fassade mehr aufrecht zu halten hat, lässt Jordan in «The Wolf of Wallstreet» durchblicken, dass er ohne Drogen zwar nicht in topform ist, weil das Geld nicht so locker fliesst. Aber er hält die Fassade der Bürgerlichkeit aufrecht.
Es ist eine der gerissensten Szenen in «The Wolf», wenn Jordan (Leonardo diCaprio) vollgepumpt mit Drogen, seinen Kumpel am Telefon lallend davon abzuhalten versucht, einen illegalen Geldtransfer über seinen Festnetzanschluss abzuwickeln, sich schliesslich, endgültig am Boden (!), robbend (!) zu seinem Boliden. begibt und nach Hause tuckert, wo er sogar unversehrt ankommt. So glaubt er zumindest  –im Drogenrausch. Dass dem nicht so ist realisiert Jordan erst am nächsten Morgen, während Woody (Bruce Dern) noch in der volltrunkenen Nacht noch bei Bewusstsein seine Wunden nähen lassen muss.
Jordan nutzt die Droge um klarer zu sehen, Woody trinkt, um zu vergessen. 

Als der vielbeschworene Markt endlich ein Gesicht kriegt, ist es eine Fratze

Wie immer auch Scorsese versucht, dem Markt ein Gesicht zu geben – es gerät ihm zu einer beängstigenden Fratze (die den Kern letztlich nicht trifft). Die Händler treten in Horden auf. Ihre Arbeitswelt ist ein wilder Rudeltreff. Die Choreograhien, die Scorsese mit seiner Händlerhorde in seinem Grossraumbüro erfindet, sind schlicht beängstigend. Mit lauter Strohmännern kann so ein Finanzkonstrukt leicht Feuer fangen.  Hier spiegelt die Horde das wieder, was Dürrenmatt mit der «beängstigenden Masse» vielleicht gemeint hat. Hier lullt sich eine Klasse von Menschen in ein Selbstverständnis von Siegern ein.

Die eine Seite zweier Medaillen

Doch in einem unterscheiden sich die beiden gegensätzlichen Amerika-Bilder doch auch athmosphärisch: Scorsese zeigt kein Erbarmen. Er lässt seine Hauptfigur bis an die Grenze der blinden Vergötterung um ihre Vormacht kämpfen. Das hat schon Züge von Bewunderung, mit denen Scorsese die Geld-Sektierer schildert. Deshalb schafft er es dann doch nicht, die Mechanismen des Marktes dahinter freizulegen. Da ist er zu sehr der alte Mafia-Thriller-Meister. Dennoch lässt er die Fratze der Gier sich «bis zur Kenntlichkeit entstellen», wie es einst Francis Bacon nannte.

Payne hingegen blickt mit einer tiefen Verständnisinnigkeit auf seine Figuren. Er stellt die Figuren mit einem liebevollen Humor aus. Er öffnet seinen Menschen Auswege. In Paynes Amerika kennen die Menschen das Gefühl des Zusammenstehens. Während Payne der Hoffnung, der amerikanische Mensch könne vielleicht doch gut sein, Raum lässt, schliesst Scorsese erbarmungslos: Sein amerikanischer Mensch ist systemisch gefangen. Solidarisch ist er höchstens zur Gewinnmaximierung. Gefühle sind in diesem System längst nur ein Reflex der Mehrwerttheorie.

Ein Filmereignis aus zwei Einzelwerken

Doch eines vereint beide Filme: Grosse amerikanische Schauspielkunst: Was DiCaprio spielt, ist grossartig abstossend. Er blättert die Nöte und Verwirrungen eines Süchtigen in allen Facetten auf. Er bringt seine Sucht gar selber auf den Punkt: Er ist schlicht nach allem süchtig, was ihm die Liebe ersetzt. Geld kann das am besten. Weil Geld fast alles kaufen kann. Dabei sei, so sagt Jordan, seine grösste Sucht, Geld mit Geld verdienen.

DiCaprio verliert nie sein Interesse auch an den rührenden Seiten seines Bösewichts. Scharf in der Beobachtung, unerbittlich in der Zielverfolgung, unfehlbar in der Witterung: Dieser Wolf ist das Alpha-Gebiss einer Wall-Street-Krake, die den Markt als ihre Beute fest in der Hand hat.

Schlicht genial ist DiCaprio dort, wo Scorses ihn das praktizieren lässt, was das «Doublethink» erfordert: Die Gedanken ihrer Figuren hinter Sätzen verstecken. Was Dicaprio in illegalen Verhandlungen and Sprachtaktiken praktiziert ist Schulungs-Höhepunkt: Egal ob er dem FBI- Beamten eine Bestechung anbietet oder den Banquier in Genf über die Möglichkeiten eines illegalen Kontos aushorcht, Dicaprio praktiziert das «Doublethink»  perfekt.

Ebenso bestechend lässt uns Bruce Dern einen Sturkopf in «Nebraska» erleben. Doch hinter den dicken Brillengläsern seiner Figur schlummern nicht zwei Wolfsaugen, sondern die gütigen Augen eines Dackels. Bruce Dern lässt seine Glieder immer schwerer werden. Fast am Ende, als er bereits zum zweiten Mal zu Boden geht, keimt Hoffnung. Das ist einfach hinreissend, wie Dern da noch einmal ein ganzes Leben Revue passieren lässt, als er am Steuer seines Trucks durch sein altes Dorf tuckert. Dern entwickelt in dem alten Mann eine zunehmend gigantische Demut. Das ist berührend und erheiternd zugleich.

Der Zuschauer kann aus zwei Filmen einen Gesamtfilm machen

Beide Filme ergänzen sich gespenstisch: Überdeutlich der eine. Zärtlich der andere. Lebenssüchtig der eine. Melancholisch der andere. Eigentlich darf man in diesem Glücksfall nicht einen der beiden Filme allein empfehlen: Im Zusammenspiel erst verschwinden die Schwächen beider: Scorsese kennt die Kulissen. Er spielt auf der Klaviatur der Hochspannung. Er lässt die Rolex in die Meute werfen. Selbst das hübsche Dörfchen des «Cinque Terre» gibt hinter der Jacht des Tycoons noch einen hübschen HIntergrund für den masslosen Schein ab. Payne lauscht den leisen Tönen der Menschen. Er bringt die Stille des Hinterlandes zum klingen. In seinen schwarz-weiss Fotografien wohnt die ganze grossartige Geschichte einer ehemaligen Führungsmacht.

Eigentlich darf man keinen der beiden Filme allein empfehlen. Machen Sie sich selbst ihren Gesamtfilm aus dem Gedicht und dem Rap auf die Gewinnsucht.

 

 

 

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